Rules of Tragedy

Ein Gespräch mit Regisseur Barrie Kosky über albtraumhafte Metropolen, mordende Soziopathen und enorm teure Broadway-Inszenierungen
Seit seiner Urauführung 1979 wurde Stephen Sondheims Sweeney Todd als »Musical Thriller« betitelt. Nicht wenige haben jedoch festgestellt, dass das Stück durchaus opernähnliche Anklänge hat. Welchem Genre würdest Du das Werk zuordnen?

Barrie Kosky: Im englischsprachigen Raum haben die Leute das Stück weitestgehend als Musical akzeptiert, obwohl es zu 80 Prozent durchkomponiert ist. Sondheim selbst hat das Werk einmal »A Black Operetta« – eine schwarze Operette – genannt, was ich absolut richtig finde. Mit Operette spielt er hierbei nicht auf Franz Léhar oder Johann Strauss an. Er wollte eher betonen, dass Sweeney Todd nicht als große Oper angesehen werden sollte. Für mich fällt das Stück in die gleiche Kategorie wie Porgy and Bess. Denn auch dort hört man auf der einen Seite eine Oper – es ist für den Operngesang geschrieben –, auf der anderen Seite aber auch viele Spirituals und Gospels. Diese Werke haben sehr viele Facetten. Überhaupt zählen Porgy and Bess und Sweeney Todd gemeinsam mit West Side Story und Satyagraha für mich zu den vier wichtigsten Meisterwerken im amerikanischen Musiktheater des 20. Jahrhunderts.

Das Werk ist mittlerweile in der Tat ein internationaler Welterfolg. In Deutschland hat es sich allerdings erst allmählich seinen Platz erkämpft …

Barrie Kosky: Die Schwierigkeit im deutsch- und französischsprachigen Raum liegt darin, dass Sweeney Todd stark vom angelsächsischen Humor geprägt ist. Das bedeutet, dass Horror und Komödie auf harmonische Weise nebeneinander existieren. Das funktionierte schon bei Shakespeare. Der schwarze Humor in Sweeney Todd ist eindeutig inspiriert von Titus Andronicus, aber vielleicht mehr noch von Macbeth. Es ist ein genialer Moment, wenn nach der dramaturgisch unglaublich guten Vorbereitung des Mordes an König Duncan plötzlich der Pförtner auftritt und über Urin spricht. Das ist genau der Humor von Sweeney Todd: In den schlimmstmöglichen Momenten kann man immer auch lachen.

Sweeney Todd


Werkinfo
The Demon Barber of Fleet Street
Ein Musical-Thriller [ 1979 ]

Musik und Gesangstexte von STEPHEN SONDHEIM Buch von HUGH WHEELER
Nach dem gleichnamigen Stück von CHRISTOPHER BOND
Regie der Originalproduktion am Broadway: HAROLD PRINCE
Orchestrierung von JONATHAN TUNICK
Original-Broadwayproduktion von Richard Barr, Charles Woodward, Robert Fryer, Mary Lea Johnson,
Martin Richards in Zusammenarbeit mit Dean und Judy Manos


Koproduktion mit Opéra national du Rhin

Eine Zwischenüberschrift

Du sprichst es gerade an: Die Charaktere in Sweeney Todd tun Dinge auf der Bühne, die das Publikum eigentlich abstoßen sollten. Wieso bleiben einem die Figuren trotzdem sympathisch?

Barrie Kosky: Das ist das Wunderbare am Stück: Eigentlich sieht man auf der Bühne zwei Hauptpersonen, die mordende Soziopathen sind. Mit großer Lust töten sie Menschen, verarbeiten ihr Fleisch zu Pasteten und verdienen viel Geld, weil die Pasteten so gut schmecken. Das ist grauenhaft. Doch auch wenn der Horror stets präsent ist, hat Sondheim ein Stück geschrieben, bei dem man in vielen Momenten über und mit den Charakteren lachen kann. Gleichzeitig sind die beiden Hauptpersonen auch tragische Figuren. Ob es Richard III., Macbeth oder eben Sweeney Todd und Mrs. Lovett sind: Obwohl sie alle miteinander furchtbare Taten vollbringen, haben wir am Ende Mitleid mit ihnen, weil wir verstehen, dass sie Menschen sind und weil wir den Grund für ihr Verhalten sehen. Richard III. leidet unter der Scham seines Körpers und darunter, dass alle Menschen auf ihn spucken. Deshalb entscheidet er sich für das Böse. Es ist ein Kampf gegen die Welt. Genauso ist es bei Sweeney Todd. Obwohl wir am Ende nicht denken, das Sweeney ein toller Typ ist, sind wir froh, wenn er zum Schluss seine Rache an Richter Turpin endlich ausüben kann. Das sind die Rules of Tragedy: Auf dem Papier hat man vielleicht unsympathische Figuren, aber die Zuschauenden fühlen trotzdem immer mit diesen Figuren. So etwas auf der Bühne darzustellen, ist wirklich schwer. Man braucht jemanden wie Sondheim und man braucht einen super Cast.
Sweeney Todd sitzt auf einem rosa Sessel, Mrs. Nellie Lovett steht direkt dahinter, im Hintergrund Bühnebild mit Pie Shop
Dagmar Manzel als Mrs. Nellie Lovett und
Christopher Purves als Sweeney Todd

Das Stück ist durchaus blutrünstig und natürlich kommt es auch nicht so häuÿg vor, dass man einen Serienmörder als Hauptperson hat …

Barrie Kosky: Ich finde, es kommt eigentlich nicht mehr Gewalt vor als in Richard III. Es stimmt natürlich, dass die Rolle von Sweeney Todd einzigartig ist. Er ist wahrhaftig ein Psychopath. Er schlitzt eine Kehle nach der anderen auf und hat dabei keinerlei Schuldgefühle. Er tötet wie eine Maschine. Ich denke, das ist es, was das Publikum liebt.

Ist Sweeney Todd somit auch eine Art Horrorfilm?

Barrie Kosky: Das Stück spielt auf jeden Fall mit allen Regeln von Horrorflmen bzw. Horrorgeschichten. Dadurch findet man auch viele Bezüge zu Edgar Allan Poe – dem »Godfather of Horror« –, der im Grunde die ersten Drehbücher für die Horrorflme des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. In Sweeney Todd finden sich die Horror- und Schockmomente besonders im zweiten Akt, wenn sich die Ereignisse überschlagen und eine rasante Szene nach der anderen folgt. Und doch bleibt das Stück am Ende immer menschlich.
Die Emotionen gehen nie verloren, man verliert nie das Interesse an den Charakteren. Alles entsteht immer konsequent aus der Psychologie der Figuren und dem Narrativ der Geschichte.

Du hast bereits über den Titelhelden gesprochen. Was hältst Du von der Frau an seiner Seite, Mrs. Lovett?

Barrie Kosky: Mrs. Lovett ist interessant, weil sie in sehr viele verschiedene Richtungen interpretiert werden kann. In der Originalproduktion hat sie die berühmte englische Schauspielerin Angela Lansbury fast wie eine Vaudeville-Figur dargestellt. Das hat seine Virtuosität, es ist lustig, es ist verrückt – aber die Tiefe ist nicht da. Wenn Mrs. Lovett allerdings zu ernst interpretiert wird, funktioniert das auch nicht. Mrs. Lovett ist schließlich sehr ironisch. Im Grunde ist sie eine einsame Frau: Ihr Mann ist früh gestorben, ihr Geschäft steht vor dem Bankrott, sie hat kein Geld, niemand möchte ihre Pasteten haben. In der Vergangenheit war sie sehr verliebt in Benjamin Barker, der nach vielen Jahren als Sweeney Todd zurückkehrt. Sie sieht nun die Möglichkeit auf ein neues Leben. Sie träumt vom häuslichen Glück mit Sweeney Todd. Sie träumt davon, dass sie heiraten und zusammen ein Geschäft haben werden. Eigentlich ist sie keine böse Frau; die Idee, aus Menschen Fleischpasteten zu machen, kommt ihr ganz plötzlich in den Sinn. Der Gedanke entsteht aus einer Schocksituation, in der es darum geht, wie man den toten Körper von Pirelli loswerden kann. Mrs. Lovett ist eigentlich sehr pragmatisch, witzig, ironisch, aber auch zerbrechlich, fragil, einsam und sehnsüchtig nach Dingen, die sie nie haben wird. Somit ist sie immer auch eine tragische Figur.
Harold Prince, Regisseur der Originalproduktion, konnte mit Sweeney Todd zunächst nicht allzu viel anfangen. Erst als er verstanden hat, dass es nicht allein um eine Rachegeschichte geht, sondern vor allem auch um Gesellschaftskritik, hatte er einen Inszenierungsansatz. Sind die sozialkritischen Aspekte auch für Deine Inszenierung von Bedeutung?

Es stimmt, dass Prince den gesellschaftskritischen Aspekt sehr stark gemacht hat und dementsprechend ein riesengroßes Bühnenbild bei der Urauführung am Broadway zu sehen war. Das war eine enorm teure Inszenierung, mit ganz London auf der Bühne – eine Stadt als Fabrik. Es ist fast wie in den Geschichten von Charles Dickens, wo die Welt im Zuge von Industrialisierung und Kapitalismus untergeht. Natürlich sind die gesellschaftskritischen Faktoren sehr präsent im Stück und Sweeney Todd singt auch ständig über diese Themen. Für mich ist es aber nicht notwendig, diese Aspekte in meiner Inszenierung so deutlich wie Prince visuell hervorzuheben. Für mich ist die Urauführungsproduktion ein bisschen monströs, wobei Tiefe und Intimität verloren gehen. Es ist virtuos gemacht, aber es fehlt ein bisschen die Balance. Ich möchte nie, dass das Publikum denkt, dass wir belehrenden Unterricht machen wollen. So funktioniert Theater nicht. Man kommt nicht aus einer Sweeney-Todd-Vorstellung und denkt: »Ah! Was für ein interessantes Stück über Kapitalismus!« Das Stück berührt einen vielmehr auf einer emotionalen Ebene.

Sweeney Todd spielt im viktorianischen London. Werden dieser Ort und diese Zeit auch in Deiner Inszenierung eine Rolle spielen?

Für mich ist nur wichtig, dass London eine Metropole ist. Man muss deswegen aber nicht das viktorianische London eins zu eins auf die Bühne bringen. Tristan und Isolde spielt in Cornwall, Die Meistersinger in Nürnberg, trotzdem braucht man weder Cornwall noch Nürnberg auf der Bühne. Diese Orte sind vielmehr wichtig, weil sie etwas repräsentieren. Das London in Sweeney Todd könnte auch Shanghai, New York, São Paolo oder Sydney sein. London ist eine Stadt, wo die Industrie die Kontrolle übernommen hat. Das Geschehen findet meistens am Abend oder in der Nacht statt. Die Stadt ist wie ein Labyrinth aus Hofnungslosigkeit, ein unsicherer Raum. Man kann sich verlieren in diesem Labyrinth. Man kann sich verstecken in diesem Labyrinth. Katrin und ich haben lange darüber gesprochen, wie wir das Bühnenbild gestalten wollen. In Amerika ist es schon lange Tradition, Sweeney Todd immer wieder so wie in der Premiere zu inszenieren: eine Charles-Dickens-Welt auf der Bühne. Wir haben das so oft gesehen und ich glaube, es hilft dem Stück nicht, es nochmal so zu machen. Man muss das Ganze ein bisschen reduzieren. Mir war klar, dass man es in einem albtraumhaften Fantasieraum belassen sollte. Wir haben uns hierbei von zwei Einfüssen inspirieren lassen: Zum einen vom Berlin der 1920er und 1930er Jahre, wie es in den Büchern von Hans Fallada grandios beschrieben wird. Zum anderen von Margaret Thatchers England der 1980er Jahre, wo es zu einem richtigen Kampf zwischen Privilegierten und Arbeitslosen kam. Das Ganze wird im wahrsten Sinne des Wortes von einem Portal gerahmt, das aus der Zeit des viktorianischen Theaters ist. Man könnte aufgrund dieses Rahmens also denken, dass man im viktorianischen London ist, die Charaktere der Inszenierung agieren allerdings innerhalb einer albtraumhaften Metropole des
20. Jahrhunderts.
Sweeney Todd sitzt auf auf dem Dach von Mrs. Lovett Pie Shop, vor ihm ein Kunde auf dem Friseurstuhl, Sweeney Todd setzt das Messer am Hals des Kunden an
Sondheim hat in seinem Werk auch einen Chor eingearbeitet, der durchaus eine interessante Funktion hat. Wie siehst Du die Rolle des Chores?


Barrie Kosky: Sondheim benutzt ihn einerseits als griechischen Chor. Das heißt, der Chor kommentiert, was eine der ältesten Theater-Traditionen ist. Andererseits kann der Chor auch konkrete Charaktere spielen. Er hat also eine Doppelfunktion, ganz genau wie in einer griechischen Tragödie. Er kann konkret die Menschen vor dem Haus des Atreus darstellen, aber ebenso abstrakt mit dem Publikum und auch miteinander diskutieren. In
der Machart der Chor-Teile sieht man eine sehr schöne Verbindung zur Dreigroschenoper.

Stichwort Dreigroschenoper: Du hast dieses Stück vor nicht allzu langer Zeit hier in Berlin inszeniert. Beide Stücke werden gerne miteinander verglichen. Wo siehst Du die Parallelen?

Barrie Kosky: Es sind natürlich zwei ganz unterschiedliche Handlungen. Aber die Hauptperson Mackie Messer ist auch ein Mörder, aber ein »Charming Murderer«. Sweeney Todd ist zwar kein Charming Murderer, aber er kommt aus der gleichen Stadt wie Mackie Messer. Bei Bertolt Brecht und Kurt Weill findet man sich in derselben Welt wie bei Sondheim wieder: in der Stadt am Abend, der einsamen Stadt, der Stadt der verlorenen Sehnsucht, voll Rache und Liebe. In beiden Stücken strahlt London eine gewisse Hofnungslosigkeit aus. Das ist eine sehr schöne Parallele. Ich glaube, dass Sweeney Todd ähnlich wie Die Dreigroschenoper sehr gut in Berlin funktioniert, da die Themen, die Stephen Sondheim behandelt, sehr berlinerisch sind.
November 2024
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
So
17.
Nov
18:00
Premiere
Stephen Sondheim
Schillertheater – Großer Saal
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Do
21.
Nov
19:30
Stephen Sondheim
Schillertheater – Großer Saal
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So
24.
Nov
18:00
Stephen Sondheim
Schillertheater – Großer Saal
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Do
28.
Nov
19:00
Stephen Sondheim
Schillertheater – Großer Saal
Dezember 2024
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
So
8.
Dez
16:00
Stephen Sondheim
Schillertheater – Großer Saal
Januar 2025