© Jan Windszus Photography
Ekelhaft, gruselig, lustig!
Ein Gespräch mit Dirigent James Gaffigan über Wagnersche Leitmotive, britischen Nonsens und Flitterwochen mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin
Als gebürtiger New Yorker ist Stephen Sondheim für Dich natürlich seit jeher ein großer Name gewesen. In Deutschland haben Sondheim und sein Stück Sweeney Todd wiederum ihre Zeit gebraucht, um an Popularität zu gewinnen. Was zeichnet das Stück und den Komponisten Deiner Meinung nach aus?
James Gaffigan: Ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal von Stephen Sondheim ist das perfekte Ineinandergreifen von Text und Musik. Kaum jemand anderes hat das so brillant umsetzen können wie er. Sweeney Todd ist das Paradebeispiel dafür: Von allen Musicals, die ich kenne, ist es in seiner orchestralen Pracht eindeutig das wirkungsvollste. Andere Musicals konzentrieren sich mehr auf den Tanz, die Musik rückt in den Hintergrund oder beschränkt sich in der formalen Gesamtanlage auf einzelne Songs. Und es gibt eine weitere Besonderheit: Sweeney Todd wird zwar als Musical bezeichnet, man findet aber sehr viele Bezüge zur klassischen Oper – es vereint gleichermaßen lustige und düstere Musik – es ist, wie Sondheim sagte, eine »Schwarze Operette«.
Ist in Sweeney Todd somit für alle Publikumsgruppen etwas dabei?
James Gaffigan: Auf jeden Fall. Ich denke Sweeney Todd ist für alle Fans der sogenannten »Ernsten Musik«, also alle, die bevorzugt in »seriöse« klassische Konzerte gehen, der perfekte Start in die Welt des Musicals. Umgekehrt werden Leute, die Musicals wie beispielsweise Jesus Christ Superstar oder Les Misérables lieben, dazu verführt, sich mit den Orchesterwerken von Gustav Mahler, Maurice Ravel oder Claude Debussy auseinanderzusetzen. Stephen Sondheim vereint das Beste aus der ihm bekannten Musik virtuos in diesem Stück.
James Gaffigan: Ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal von Stephen Sondheim ist das perfekte Ineinandergreifen von Text und Musik. Kaum jemand anderes hat das so brillant umsetzen können wie er. Sweeney Todd ist das Paradebeispiel dafür: Von allen Musicals, die ich kenne, ist es in seiner orchestralen Pracht eindeutig das wirkungsvollste. Andere Musicals konzentrieren sich mehr auf den Tanz, die Musik rückt in den Hintergrund oder beschränkt sich in der formalen Gesamtanlage auf einzelne Songs. Und es gibt eine weitere Besonderheit: Sweeney Todd wird zwar als Musical bezeichnet, man findet aber sehr viele Bezüge zur klassischen Oper – es vereint gleichermaßen lustige und düstere Musik – es ist, wie Sondheim sagte, eine »Schwarze Operette«.
Ist in Sweeney Todd somit für alle Publikumsgruppen etwas dabei?
James Gaffigan: Auf jeden Fall. Ich denke Sweeney Todd ist für alle Fans der sogenannten »Ernsten Musik«, also alle, die bevorzugt in »seriöse« klassische Konzerte gehen, der perfekte Start in die Welt des Musicals. Umgekehrt werden Leute, die Musicals wie beispielsweise Jesus Christ Superstar oder Les Misérables lieben, dazu verführt, sich mit den Orchesterwerken von Gustav Mahler, Maurice Ravel oder Claude Debussy auseinanderzusetzen. Stephen Sondheim vereint das Beste aus der ihm bekannten Musik virtuos in diesem Stück.
Sweeney Todd
Werkinfo
The Demon Barber of Fleet Street
Ein Musical-Thriller [ 1979 ]
Musik und Gesangstexte von STEPHEN SONDHEIM Buch von HUGH WHEELER
Nach dem gleichnamigen Stück von CHRISTOPHER BOND
Regie der Originalproduktion am Broadway: HAROLD PRINCE
Orchestrierung von JONATHAN TUNICK
Original-Broadwayproduktion von Richard Barr, Charles Woodward, Robert Fryer, Mary Lea Johnson,
Martin Richards in Zusammenarbeit mit Dean und Judy Manos
Koproduktion mit Opéra national du Rhin
Denkst Du da an konkrete Personen, von denen Sondheim beeinflusst wurde?
James Gaffigan: Einer, der mir sofort in den Sinn kommt, ist Ravel. Wann immer Stellen über das Wasser oder die Schiffe auf dem Wasser vorkommen, höre ich in Sondheims fießender Musik eindeutig Shéhérazade heraus. Es sind die gleichen Rhythmen, zu denen die Boote schaukeln. Ich liebe außerdem, wie Sondheim Jazz und Bossa Nova in Mrs. Lovetts Musiknummern »By The Sea« und »Wait« einsetzt. Darüber hinaus sind auch Einfüsse von Mozart und Mahler in dem Stück zu hören.
James Gaffigan: Einer, der mir sofort in den Sinn kommt, ist Ravel. Wann immer Stellen über das Wasser oder die Schiffe auf dem Wasser vorkommen, höre ich in Sondheims fießender Musik eindeutig Shéhérazade heraus. Es sind die gleichen Rhythmen, zu denen die Boote schaukeln. Ich liebe außerdem, wie Sondheim Jazz und Bossa Nova in Mrs. Lovetts Musiknummern »By The Sea« und »Wait« einsetzt. Darüber hinaus sind auch Einfüsse von Mozart und Mahler in dem Stück zu hören.
© Jan Windszus Photography
Wenn man über die Musik von Sweeney Todd spricht, spielen natürlich auch die Leitmotive eine wichtige Rolle. Wie werden diese im Stück eingesetzt?
James Gaffigan: Sondheim benutzt sie in einer Art und Weise, wie es Richard Wagner tun würde. Sie durchziehen das gesamte Werk und werden konsequent weiterentwickelt. Wenn zum Beispiel Mrs. Lovett singt: »Seems a downright shame (Wäre doch schade drum)« und das Ganze zu einem Walzer wird, hat man das gesamte Material bereits gehört, aber man merkt es nicht. Das ist typisch für einen Komponisten wie Sondheim: Er sendet uns unbewusst Botschaften, die wir im Moment selbst nicht unbedingt verstehen. Und trotzdem werden wir sofort beeinflusst durch die Musik, weil sie es schafft, dass wir uns mit den Figuren identifizieren können.
Wo Du bereits die Figuren ansprichst: Was sind das eigentlich für Charaktere, die uns im Stück begegnen?
James Gaffigan: Todd und Mrs. Lovett sind auf jeden Fall zwei üble und perverse Individuen. Sie sind makabre, obsessive Menschen. Mrs. Lovett ist zweifellos verliebt in Sweeney Todd. Sie ist überzeugt von den schrecklichen Taten, die sie gemeinsam vollbringen. Beide sind sehr egoistische Menschen. Aber sie glauben
an das, was sie tun. Im Gegensatz dazu sind Johanna und Anthony eindeutig die unschuldigen Figuren im Stück, die am Ende auch überleben. Der grausame Richter Turpin und sein Handlanger Beadle Bamford sind wiederum die typischen Bösewichte, vor allem Richter Turpin scheint hier noch sehr stark vom alten Genre des Melodrams inspiriert. Alles in allem gibt es im Stück bei den Nebenfiguren grundsätzlich ein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Natürlich ist es aber etwas Besonderes, dass die beiden Hauptfiguren vollkommen wahnsinnig sind. Man fndet kaum Menschen, die ihnen gleichen. Einzig vielleicht in Shakespeares Macbeth. Das ist ein ähnliches Stück, indem die Charaktere schreckliche Sachen tun.
James Gaffigan: Sondheim benutzt sie in einer Art und Weise, wie es Richard Wagner tun würde. Sie durchziehen das gesamte Werk und werden konsequent weiterentwickelt. Wenn zum Beispiel Mrs. Lovett singt: »Seems a downright shame (Wäre doch schade drum)« und das Ganze zu einem Walzer wird, hat man das gesamte Material bereits gehört, aber man merkt es nicht. Das ist typisch für einen Komponisten wie Sondheim: Er sendet uns unbewusst Botschaften, die wir im Moment selbst nicht unbedingt verstehen. Und trotzdem werden wir sofort beeinflusst durch die Musik, weil sie es schafft, dass wir uns mit den Figuren identifizieren können.
Wo Du bereits die Figuren ansprichst: Was sind das eigentlich für Charaktere, die uns im Stück begegnen?
James Gaffigan: Todd und Mrs. Lovett sind auf jeden Fall zwei üble und perverse Individuen. Sie sind makabre, obsessive Menschen. Mrs. Lovett ist zweifellos verliebt in Sweeney Todd. Sie ist überzeugt von den schrecklichen Taten, die sie gemeinsam vollbringen. Beide sind sehr egoistische Menschen. Aber sie glauben
an das, was sie tun. Im Gegensatz dazu sind Johanna und Anthony eindeutig die unschuldigen Figuren im Stück, die am Ende auch überleben. Der grausame Richter Turpin und sein Handlanger Beadle Bamford sind wiederum die typischen Bösewichte, vor allem Richter Turpin scheint hier noch sehr stark vom alten Genre des Melodrams inspiriert. Alles in allem gibt es im Stück bei den Nebenfiguren grundsätzlich ein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Natürlich ist es aber etwas Besonderes, dass die beiden Hauptfiguren vollkommen wahnsinnig sind. Man fndet kaum Menschen, die ihnen gleichen. Einzig vielleicht in Shakespeares Macbeth. Das ist ein ähnliches Stück, indem die Charaktere schreckliche Sachen tun.
© Jan Windszus Photography
Bühnencharaktere, die furchtbare Dinge tun, haben logischerweise eine unmittelbare Auswirkung auf die Handlung. Eigentlich ist diese in Sweeney Todd ja recht bizarr und ekelerregend …
James Gaffigan:Die Geschichte ist in der Tat ekelhaft und das Publikum weiß zunächst nicht, wie es damit umgehen soll. Ich bin daher auch sehr neugierig, wie die Menschen hier in Berlin auf diesen Stoff reagieren. Im britischen Raum wird aus Sweeney Todd leider häufig nur reiner Slapstick – ein Witz jagt den nächsten und übrig bleibt alberner Nonsens. In Amerika wiederum wird dem Horroranteil viel Beachtung geschenkt, dafür kommt dann aber der Humor zu kurz. Tim Burtons Verfilmung von 2007 ist der beste Beleg dafür. Auch wenn ich die Arbeit des Regisseurs und der Darstellenden grundsätzlich schätze und liebe, wurde hier meiner Meinung nach der Sinn von Sweeney Todd verfehlt. Das zeigt aber auch, dass Sweeney Todd einfach ein Bühnenwerk ist – ein meisterhaftes Musical, das als reiner Filmsoundtrack nicht funktioniert.
Die Gegebenheiten hier an der Komischen Oper Berlin unterscheiden sich von denen anderer Musical-Häuser bzw. dem Broadway. Welche Möglichkeiten eröffnen sich, wenn man Sweeney Todd in einem Opernbetrieb wie der Komischen Oper Berlin zur Aufführung bringt?
James Gaffigan: Grundsätzlich hat man nur selten die Chance, das Stück mit einem so großen Orchester und mit einem vollbesetzten Chor zu hören. An anderen Spielstätten ist es häufig schon eine große Sache, wenn man 20 Leute im Chor und 20 Personen im Orchestergraben zusammenbekommt. Die Möglichkeiten bei uns versprechen somit ein einzigartiges Happening. Mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin bin ich ohnehin gerade in den Flitterwochen: Wir sind verliebt, wir arbeiten hart zusammen, wir haben unseren Spaß. Es ist außerdem fantastisch die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin in dieser Produktion zu erleben. Hier muss ich ein großes Kompliment an unseren Chordirektor David Cavelius aussprechen. Dieser Chor geht jedes Stück – von Wagner bis Sondheim – immer mit hundertprozentigem Ehrgeiz an. Der Chor ist herrlich spielfreudig, großartig in den Bewegungen und im Schauspiel. So ein Zusammenspiel von Gesang und darstellerischer Kraft sieht man weltweit nur ganz selten.
James Gaffigan:Die Geschichte ist in der Tat ekelhaft und das Publikum weiß zunächst nicht, wie es damit umgehen soll. Ich bin daher auch sehr neugierig, wie die Menschen hier in Berlin auf diesen Stoff reagieren. Im britischen Raum wird aus Sweeney Todd leider häufig nur reiner Slapstick – ein Witz jagt den nächsten und übrig bleibt alberner Nonsens. In Amerika wiederum wird dem Horroranteil viel Beachtung geschenkt, dafür kommt dann aber der Humor zu kurz. Tim Burtons Verfilmung von 2007 ist der beste Beleg dafür. Auch wenn ich die Arbeit des Regisseurs und der Darstellenden grundsätzlich schätze und liebe, wurde hier meiner Meinung nach der Sinn von Sweeney Todd verfehlt. Das zeigt aber auch, dass Sweeney Todd einfach ein Bühnenwerk ist – ein meisterhaftes Musical, das als reiner Filmsoundtrack nicht funktioniert.
Die Gegebenheiten hier an der Komischen Oper Berlin unterscheiden sich von denen anderer Musical-Häuser bzw. dem Broadway. Welche Möglichkeiten eröffnen sich, wenn man Sweeney Todd in einem Opernbetrieb wie der Komischen Oper Berlin zur Aufführung bringt?
James Gaffigan: Grundsätzlich hat man nur selten die Chance, das Stück mit einem so großen Orchester und mit einem vollbesetzten Chor zu hören. An anderen Spielstätten ist es häufig schon eine große Sache, wenn man 20 Leute im Chor und 20 Personen im Orchestergraben zusammenbekommt. Die Möglichkeiten bei uns versprechen somit ein einzigartiges Happening. Mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin bin ich ohnehin gerade in den Flitterwochen: Wir sind verliebt, wir arbeiten hart zusammen, wir haben unseren Spaß. Es ist außerdem fantastisch die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin in dieser Produktion zu erleben. Hier muss ich ein großes Kompliment an unseren Chordirektor David Cavelius aussprechen. Dieser Chor geht jedes Stück – von Wagner bis Sondheim – immer mit hundertprozentigem Ehrgeiz an. Der Chor ist herrlich spielfreudig, großartig in den Bewegungen und im Schauspiel. So ein Zusammenspiel von Gesang und darstellerischer Kraft sieht man weltweit nur ganz selten.
© Jan Windszus Photography
Und neben der musikalischen Qualität verantwortet in dieser Produktion ja auch ein absoluter Meister seines Faches die Inszenierung …
James Gaffigan: Barrie Kosky ist wirklich ein Phänomen. Ich weiß, dass alle immer von ihm schwärmen, aber er versteht eben auch diese Musik so gut. Und das ist eine Seltenheit, denn häufig versuchen regieführende Personen zwanghaft Dinge zu verändern. Barrie hingegen schaut ganz genau auf den Text und die Musik und geht hier eigentlich genauso vor wie ich. Für mich ist er wie eine verwandte Seele. Er vertraut dem Material, das der Komponist hinterlassen hat und setzt das großartig um. Und trotzdem sind auch in dieser Inszenierung wieder viele einzigartige Barrie-Momente zu finden, in denen man sowohl das Urkomische als auch das zutiefst Erschreckende dieses Stückes erfahren kann.
Was sind Deine ganz persönlichen musikalischen Lieblingsmomente im Stück?
James Gaffigan:Der erste Moment, der mir einfällt, ist das Quartett im zweiten Akt, wenn Sweeney Todd nacheinander verschiedene Kunden bei der Rasur tötet, während er gleichzeitig über Johanna singt und die Hoffnung äußert, sie eines Tages wiederzusehen. Parallel dazu streift Anthony durch die Straßen und singt: »I feel you, Johanna (Ich spüre dich, Johanna)«. Johanna selbst ist in der Irrenanstalt und träumt von der Hochzeit mit Anthony. Als viertes steigt dann ebenso die Bettlerin in dieses außergewöhnliche Ensemble
mit ein. Ich bekomme bei dieser Stelle jedes Mal Gänsehaut. Das liegt vor allem an Sweeney Todd: Er singt zum einen diese wunderschöne Musik und zum anderen schlitzt er mit einer solchen Gleichgültigkeit eine Kehle nach der anderen auf – das ist absolut furchteinflößend. Mein zweiter Lieblingsmoment im Stück ist am Ende des ersten Aktes, wenn Mrs. Lovett folgende Worte an Sweeney Todd richtet: »Seems a downright shame, seems an awful waste (Wäre doch schade drum, wäre doch Verschwendung).« Mit »waste« spielt sie hierbei auf die Leiche von Pirelli an. Es wäre also eine »Verschwendung«, den toten Körper nicht weiter zu nutzen, da er ja durchaus noch für etwas ganz Bestimmtes verwendet werden könnte. Der Moment, wenn Sweeney Todd sie ansieht und ihre Idee versteht, ist unbezahlbar. Anschließend singen beide gemeinsam das berühmte Duett »A Little Priest«, wo sie sich vorstellen, welche verschiedenen Menschen zu Fleischpasteten verarbeitet werden könnten. Für mich wird hier sehr exemplarisch gezeigt, was dieses Stück so besonders macht. Kein anderes Musical und keine andere Oper, die ich kenne, sind gleichermaßen so ekelhaft, so gruselig – und so lustig.
James Gaffigan: Barrie Kosky ist wirklich ein Phänomen. Ich weiß, dass alle immer von ihm schwärmen, aber er versteht eben auch diese Musik so gut. Und das ist eine Seltenheit, denn häufig versuchen regieführende Personen zwanghaft Dinge zu verändern. Barrie hingegen schaut ganz genau auf den Text und die Musik und geht hier eigentlich genauso vor wie ich. Für mich ist er wie eine verwandte Seele. Er vertraut dem Material, das der Komponist hinterlassen hat und setzt das großartig um. Und trotzdem sind auch in dieser Inszenierung wieder viele einzigartige Barrie-Momente zu finden, in denen man sowohl das Urkomische als auch das zutiefst Erschreckende dieses Stückes erfahren kann.
Was sind Deine ganz persönlichen musikalischen Lieblingsmomente im Stück?
James Gaffigan:Der erste Moment, der mir einfällt, ist das Quartett im zweiten Akt, wenn Sweeney Todd nacheinander verschiedene Kunden bei der Rasur tötet, während er gleichzeitig über Johanna singt und die Hoffnung äußert, sie eines Tages wiederzusehen. Parallel dazu streift Anthony durch die Straßen und singt: »I feel you, Johanna (Ich spüre dich, Johanna)«. Johanna selbst ist in der Irrenanstalt und träumt von der Hochzeit mit Anthony. Als viertes steigt dann ebenso die Bettlerin in dieses außergewöhnliche Ensemble
mit ein. Ich bekomme bei dieser Stelle jedes Mal Gänsehaut. Das liegt vor allem an Sweeney Todd: Er singt zum einen diese wunderschöne Musik und zum anderen schlitzt er mit einer solchen Gleichgültigkeit eine Kehle nach der anderen auf – das ist absolut furchteinflößend. Mein zweiter Lieblingsmoment im Stück ist am Ende des ersten Aktes, wenn Mrs. Lovett folgende Worte an Sweeney Todd richtet: »Seems a downright shame, seems an awful waste (Wäre doch schade drum, wäre doch Verschwendung).« Mit »waste« spielt sie hierbei auf die Leiche von Pirelli an. Es wäre also eine »Verschwendung«, den toten Körper nicht weiter zu nutzen, da er ja durchaus noch für etwas ganz Bestimmtes verwendet werden könnte. Der Moment, wenn Sweeney Todd sie ansieht und ihre Idee versteht, ist unbezahlbar. Anschließend singen beide gemeinsam das berühmte Duett »A Little Priest«, wo sie sich vorstellen, welche verschiedenen Menschen zu Fleischpasteten verarbeitet werden könnten. Für mich wird hier sehr exemplarisch gezeigt, was dieses Stück so besonders macht. Kein anderes Musical und keine andere Oper, die ich kenne, sind gleichermaßen so ekelhaft, so gruselig – und so lustig.
Mehr dazu
19. November 2024
Mord ist sein Hobby
Makabrer Kannibalismus, grausame Vergewaltigungen und jede Menge Blut – all das assoziieren wohl die allerwenigsten mit einem kommerziellen Broadway-Musical. Und doch sind es genau diese Aspekte, welche Stephen Sondheims Musical-Thriller Sweeney Todd so faszinierend machen. Ganz ohne Irritationen ging das Erfolgsstück anfangs freilich nicht über die Bühne. Denn trotz acht Tony Awards und einem Broadwaylauf von 557 Aufführungen in seiner Premierensaison, stellte die Neuartigkeit des Werkes das Publikum vor Rätsel: Ist das jetzt ein Musical? Eine Oper? Ein Melodram? Eine Tragödie? Eine Komödie? Nicht nur mit zahllosen Morden konfrontiert uns das Werk, die Berge an Leichen werden auch noch zu Fleischpasteten verarbeitet und einer nichts ahnenden Kundschaft zum Essen serviert. Serienmorde und Kannibalismus – darf man über so etwas denn überhaupt lachen? Eine Einführung von Daniel Andrés Eberhard.
#KOBSweeneyTodd
Einführung
18. November 2024
Musikalisch eine reine Freude. Der von David Cavelius einstudierte Chor ist in dieser Stadt als Opernchor zurzeit ohne Konkurrenz, gesanglich erweist er sich als ebenso überlegen wie in gestalterischer Schärfe und Spielfreude. Und James Gaffigan am Pult des Orchesters der Komischen Oper gelingt eine pointierte und farblich enorm reiche Interpretation, die in keinem Moment den Faden verliert. Man spürt den Spaß, den die Arbeit an einer so reizvoll zwischen kompositorischem Anspruch und Popularität oszillierenden Partitur machen muss. Die melodischen Reize ... gelingen so präsent, wie die hintergründige leitmotivische Struktur stets spürbar bleibt.
Peter Uehling, Berliner Zeitung
Die Komische Oper bringt »Sweeney Todd« und die beste Pastete von London auf die Bühne
Die Komische Oper bringt »Sweeney Todd« und die beste Pastete von London auf die Bühne
#KOBSweeneyTodd
12. November 2024
Rules of Tragedy
Eigentlich spielt das Musical Sweeney Todd in einem viktorianischen London des 19. Jahrhunderts. Doch in Barrie Koskys Inszenierung präsentiert die Bühne sie als modernere Metropole, inspiriert vom Berlin der 1920er und 1930er Jahre und der Ära Margaret Thatchers. So mutiert dieses »Labyrinth der Hoffnungslosigkeit« auf der Bühne noch stärker zum Kampfplatz privilegierter Oberschicht und dem Milieu der Arbeiterklasse. Aus der Geschichte eines Rachefeldzugs wächst mit dem Musical »Sweeney Todd« an der Komischen Oper Berlin ein düster-komisches Panorama, das seinen Fokus auf das albtraumhafte Leben der Mittellosen in heutigen Großstädten setzt. Im Interview erzählt Regisseur Barrie Kosky, wie zwei fast sympathische Soziopathen –angetrieben von Leid und Rache – die feinsten Pasteten in einem solchen Moloch auftischen, wie viel Shakespeareanleihen in dem Musicalklassiker steckt, und wie überzeugend Horror und Komödie miteinander harmonieren können.
#KOBSweeneyTodd
Interview