© Jan Windszus Photography
Flotte Sohle!
Die »Roaring Twenties« und die Melancholie der Welt
Schmissige Rhythmen, nostalgische Melodien und visionäre Techniken: Die Komponisten des Sinfonikonzerts Flotte Sohle sind durchaus keine Mauerblümchen, nein, sie wagten den Schritt ins kreative Niemandsland und wurden von Zeitgenoss:innen, Parteien, Landsmännern und -frauen sowie Fremden dafür verlacht und verboten. Mutig und entfesselt wagten sie sich aber dennoch aufs Parkett, inspiriert vom Jazz und voller innovativer Ideen, um die Musikwelt zum Tanzen zu bringen! Eine Einführung von Julia Jordà Stoppelhaar
Der »Bad Boy of Music«
Als Enfant terrible der Musikszene der 1920er skandalisierte George Antheil das Pariser Publikum mit seinem bahnbrechenden Ballet mécanique, war Protagonist manch einer abenteuerlichen Anekdote und darüber hinaus Erfinder einer Technologie, die heute drahtloses Internet, GPS-Systeme und Bluetooth ermöglicht!
Der 1900 in Trenton, New Jersey geborene Sohn deutscher Einwanderer – derselbe Jahrgang wie Kurt Weill und Ernst Krenek – erhielt seit seinem sechsten Lebensjahr Klavierunterricht von seiner Tante, arbeitete im Schuhgeschäft seines Vaters und studierte bei Ernst Bloch in New York. Dann schmiss er die Schule, suchte sich eine Mäzenin und zog 1922 nach Berlin, um als Pianist eigene und zeitgenössische Werke vorzutragen. Seine neuartigen, vom Tempo des technischen Zeitalters getriebenen Kompositionen versetzten das Publikum des Nachkriegs-Berlin in Aufruhr. Doch Antheil hatte einen Plan: bekannt, ja berüchtigt werden. Um sein Ziel zu erreichen, legte er auch schon mal demonstrativ seinen Revolver aufs Klavier. In die für ihn dunkle Berliner Zeit fiel aber auch die Begegnung mit einem seiner Vorbilder, Igor Strawinsky. Lange Gespräche bei ausgedehnten Mittagessen schienen eine Freundschaft aufblühen zu lassen, die aber ebenso schnell verdorrte, als Strawinsky erfuhr, dass Antheil mit seiner Gunst angab. Dennoch war es Strawinsky, der Antheil ermutigte, nach Paris zu ziehen, wo er seine Skandalfähigkeit endgültig unter Beweis stellen sollte …
Der 1900 in Trenton, New Jersey geborene Sohn deutscher Einwanderer – derselbe Jahrgang wie Kurt Weill und Ernst Krenek – erhielt seit seinem sechsten Lebensjahr Klavierunterricht von seiner Tante, arbeitete im Schuhgeschäft seines Vaters und studierte bei Ernst Bloch in New York. Dann schmiss er die Schule, suchte sich eine Mäzenin und zog 1922 nach Berlin, um als Pianist eigene und zeitgenössische Werke vorzutragen. Seine neuartigen, vom Tempo des technischen Zeitalters getriebenen Kompositionen versetzten das Publikum des Nachkriegs-Berlin in Aufruhr. Doch Antheil hatte einen Plan: bekannt, ja berüchtigt werden. Um sein Ziel zu erreichen, legte er auch schon mal demonstrativ seinen Revolver aufs Klavier. In die für ihn dunkle Berliner Zeit fiel aber auch die Begegnung mit einem seiner Vorbilder, Igor Strawinsky. Lange Gespräche bei ausgedehnten Mittagessen schienen eine Freundschaft aufblühen zu lassen, die aber ebenso schnell verdorrte, als Strawinsky erfuhr, dass Antheil mit seiner Gunst angab. Dennoch war es Strawinsky, der Antheil ermutigte, nach Paris zu ziehen, wo er seine Skandalfähigkeit endgültig unter Beweis stellen sollte …
Die Gerüchteküche brodelte, und die Erwartungen kochten über, wenn Antheil die Bühne betrat. Mit seiner schlagenden Klaviertechnik behandelte er das Instrument weniger melodisch als perkussiv und verletzte sich dabei zeitweilig selbst. Inszenierte Aufstände in Konzertsälen, Kämpfe zwischen den Sitzreihen, polternde Polizeieinsätze und festgenommene Surrealist:innen: Antheil war höchst zufrieden mit dem Pariser Kulturleben. Die Uraufführung seines wohl bekanntesten Werks, das revolutionäre Ballet mécanique, sorgte für einen der größten Skandale der Zeit. Die Werbung rund um das Konzert hatte Antheil durch das Gerücht angefacht, ein Löwe habe ihn bei einem Afrika-Aufenthalt verspeist. Die Konzertbesucher:innen erwartete eine Explosion von Musik, es dröhnte, es lärmte, und die Zuschauer:innen tobten, als acht Flügel, ein selbstspielendes Pianola, drei Xylophone, dazu Trommeln, Türklingeln, Sirenen und ein als Orgelpunkt* gedachter Flugzeugpropeller (der die Perücken im Zuschauersaal davonwehte) das futuristische Ballet mécanique 1926 zur Uraufführung brachten.
© Alexander Müller
Im Rahmen der amerikanischen Erstaufführung 1927 in der New Yorker Carnegie Hall wurde auch A Jazz Symphony uraufgeführt. In seiner Autobiographie Bad Boy of Music schrieb er selbstbewusst über seine Komposition: »Ich habe ein Stück geschrieben – ein ›Über-Jazz-Stück‹, wie sie es nennen, und sogar Gershwins beste Freunde versichern mir, dass es Gershwin in den Schatten stellt – es ist eine Tour de Force des heutigen Amerika.« Tatsächlich ging es Antheil darum, die sinfonische Tragfähigkeit des Jazz unter Beweis zu stellen sowie populäre Musik und Kunstmusik zu vereinen. Er ließ sich vom New-Orleans-Jazz* inspirieren, der sich durch Improvisationen im Ensemble auszeichnet, legte die Sinfonie jedoch für großes Orchester mit drei Klavieren, Banjos und Jazzschlagzeug an. Diese Besetzung verkleinerte er 1955 und strich dabei auch einige der dissonantesten, radikalsten Stellen. Obwohl A Jazz Symphony bei der Premiere zunächst viel Applaus erhielt und sich sogar George Gershwin positiv darüber äußerte, überschattete die skandalöse Aufführung des Ballet mécanique ihren Erfolg.
Die katastrophalen Ereignisse der ersten Jahrhunderthälfte und das Aufkommen der Nationalsozialist:innen beendeten nicht nur Antheils schöpferische Phase in Europa mit der Übersiedlung in die USA. Für Europa stets »der Amerikaner«, wurde seine futuristische Musik in der neuen Heimat als zu europäisch wahrgenommen. Antheil suchte sein Glück in Hollywood und komponierte mehr als dreißig Filmmusiken für Regisseure wie Cecil B. DeMille, aber auch für unabhängige Produzenten wie Ben Hecht. In dessen 1946 veröffentlichten Film Specter of the Rose wird ein Balletttänzer des Mords an seiner Frau und Tanzpartnerin verdächtigt. Er scheint ähnliche Pläne für seine neue Tanzpartnerin zu schmieden, wird dann aber von einer Melodie heimgesucht, die erklang, als seine Frau tot zu Boden fiel: George Antheils Spectre of the Rose Waltz. 1947 arrangierte Antheil den Walzer als Konzertstück, ohne dabei seine dunkle romantische Note und eklektische harmonische Opulenz zu verlieren. Der politisch engagierte Komponist war Teil der »Hollywood Anti-Nazi League« und organisierte Kunstausstellungen mit von den Nationalsozialist:innen verbotener Kunst, unter anderen von Käthe Kollwitz. 1939 veröffentlichte er einen als Rückblende geschriebenen Aufsatz unter dem Titel Deutschland hatte gar keine Chance, in dem er mitunter den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion vorhersagte. Antheils Aufenthalt in Europa und das Wissen, das er wohl von seinem Diplomaten-Bruder erhielt, hatte er seinen isolationistischen US-amerikanischen Zeitgenoss:innen voraus. In Hollywood lernte er auch Hedy Lamarr kennen, und gemeinsam leisteten sie durch die Verbesserung funkgesteuerter Torpedos einen Beitrag zum Krieg gegen die Nationalsozialist:innen. Die U-Boot-Torpedos der Zeit ließen sich nicht richtig steuern, verfehlten oft ihr Ziel und hatten ein leicht zu störendes Funksignal. Um die für seine Kompositionen so wichtige Synchronisierung selbstspielender Klaviere zu erreichen, hatte Antheil Lochstreifen entwickelt, in denen Lamarr die Lösung erkannte: Ein Lochkartenprogramm ermöglichte permanent wechselnde Funkfrequenzen – ein Prinzip, das heute noch die Grundlage für drahtloses Internet, GPS- Systeme und Bluetooth bildet.
Pionier, radikaler Futurist, Skandalkomponist, der »Schostakowitsch von Trenton« und selbsternannter »Bad Boy of Music«: Viele Titel gab man George Antheil im Versuch, diesen visionären Künstler zu greifen, der für seine Zeit doch unbegreifbar blieb.
Die katastrophalen Ereignisse der ersten Jahrhunderthälfte und das Aufkommen der Nationalsozialist:innen beendeten nicht nur Antheils schöpferische Phase in Europa mit der Übersiedlung in die USA. Für Europa stets »der Amerikaner«, wurde seine futuristische Musik in der neuen Heimat als zu europäisch wahrgenommen. Antheil suchte sein Glück in Hollywood und komponierte mehr als dreißig Filmmusiken für Regisseure wie Cecil B. DeMille, aber auch für unabhängige Produzenten wie Ben Hecht. In dessen 1946 veröffentlichten Film Specter of the Rose wird ein Balletttänzer des Mords an seiner Frau und Tanzpartnerin verdächtigt. Er scheint ähnliche Pläne für seine neue Tanzpartnerin zu schmieden, wird dann aber von einer Melodie heimgesucht, die erklang, als seine Frau tot zu Boden fiel: George Antheils Spectre of the Rose Waltz. 1947 arrangierte Antheil den Walzer als Konzertstück, ohne dabei seine dunkle romantische Note und eklektische harmonische Opulenz zu verlieren. Der politisch engagierte Komponist war Teil der »Hollywood Anti-Nazi League« und organisierte Kunstausstellungen mit von den Nationalsozialist:innen verbotener Kunst, unter anderen von Käthe Kollwitz. 1939 veröffentlichte er einen als Rückblende geschriebenen Aufsatz unter dem Titel Deutschland hatte gar keine Chance, in dem er mitunter den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion vorhersagte. Antheils Aufenthalt in Europa und das Wissen, das er wohl von seinem Diplomaten-Bruder erhielt, hatte er seinen isolationistischen US-amerikanischen Zeitgenoss:innen voraus. In Hollywood lernte er auch Hedy Lamarr kennen, und gemeinsam leisteten sie durch die Verbesserung funkgesteuerter Torpedos einen Beitrag zum Krieg gegen die Nationalsozialist:innen. Die U-Boot-Torpedos der Zeit ließen sich nicht richtig steuern, verfehlten oft ihr Ziel und hatten ein leicht zu störendes Funksignal. Um die für seine Kompositionen so wichtige Synchronisierung selbstspielender Klaviere zu erreichen, hatte Antheil Lochstreifen entwickelt, in denen Lamarr die Lösung erkannte: Ein Lochkartenprogramm ermöglichte permanent wechselnde Funkfrequenzen – ein Prinzip, das heute noch die Grundlage für drahtloses Internet, GPS- Systeme und Bluetooth bildet.
Pionier, radikaler Futurist, Skandalkomponist, der »Schostakowitsch von Trenton« und selbsternannter »Bad Boy of Music«: Viele Titel gab man George Antheil im Versuch, diesen visionären Künstler zu greifen, der für seine Zeit doch unbegreifbar blieb.
© Jan Windszus Photography
Schostakowitschs gutes Ohr
Dmitri Schostakowitschs Tahitit Trot (1927) basiert auf einem Foxtrott*-Song aus der Feder Vincent Youmans’ für das Musical No, No, Nanette (1924) und entstand bei einer Wette mit dem befreundeten Dirigenten und Komponisten Nikolai Malko. Kennengelernt hatten sie sich am Konservatorium in Sankt Petersburg, wo Schostakowitsch studierte. Er interessierte sich für westliche avantgardistische Musik und lernte Kompositionen von Paul Hindemith, Béla Bartók und Ernst Krenek kennen, die nach der postrevolutionären kulturellen Isolation der Sojwetunion langsam ins Land schwappten. Musikalische Neuerungen waren ihm auch während seiner Tätigkeit als Kinopianist zugewachsen und inspirierten seine Filmmusiken, mit denen er sich später in Berufsverbotszeiten über Wasser hielt. Denn seine Arbeiten standen im Konflikt mit dem stalinistischen Dogma, Jazzelemente wurden als konterrevolutionär bezeichnet. Seine Entschlossenheit, die strenge kompositorische Disziplin seiner Alma Mater mit der neuen experimentellen Freiheit zu verbinden, verlieh seinen Werken eine facettenreiche Musiksprache, mit schnellen Modulationen in Ton und Stil. Dabei nahm er auch am regen studentischen Austausch teil und schloss sich Gruppen wie dem Anna Fogt-Zirkel an, in dem auch Nikolai Malko verkehrte.
1927 war ein bewegtes Jahr für Schostakowitsch. Nicht nur arbeitete er an seiner Oper Die Nase, auch schuf er anlässlich des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution ein Auftragswerk: seine 2. Sinfonie, die unter der Leitung Nikolai Malkos uraufgeführt wurde. Im selben Jahr hörten Malko und Schostakowitsch im Meyerhold-Theater auch Vincent Youmans’ Foxtrott-Song Tea for Two, der seit seiner Komposition 1925 zum Jazz-Standard avanciert war. Schostakowitsch bewunderte außerdem Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf, die ein Youmans-Arrangement enthielt. So kam es im Oktober 1927 bei einem Treffen mit Freunden zu einer Wette zwischen Malko und Schostakowitsch: Schostakowitsch sollte die Musik, nachdem er sie einmal gehört hatte, innerhalb nur einer Stunde aus dem Gedächtnis aufschreiben, orchestrieren und vorspielen. Schostakowitsch stellte sein erstaunliches Gehör und Gedächtnis unter Beweis und komponierte in nur 45 Minuten den Tahiti Trot. Die neun Töne umfassende Melodie übernahm er und stellte dafür die Instrumente in den Mittelpunkt: Ob Xylophon, Trompeten oder Holzblöcke – fast alle Instrumente erhalten hier ein Solo und wechseln sich mit fließenden Streichern ab. Seit dem internationalen Erfolg von Schostakowitschs 1. Sinfonie 1925 beschäftigte sich auch Darius Milhaud mit dem jungen Komponisten, über den er in seinen Notes sans musique seine Bewunderung festhielt.
1927 war ein bewegtes Jahr für Schostakowitsch. Nicht nur arbeitete er an seiner Oper Die Nase, auch schuf er anlässlich des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution ein Auftragswerk: seine 2. Sinfonie, die unter der Leitung Nikolai Malkos uraufgeführt wurde. Im selben Jahr hörten Malko und Schostakowitsch im Meyerhold-Theater auch Vincent Youmans’ Foxtrott-Song Tea for Two, der seit seiner Komposition 1925 zum Jazz-Standard avanciert war. Schostakowitsch bewunderte außerdem Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf, die ein Youmans-Arrangement enthielt. So kam es im Oktober 1927 bei einem Treffen mit Freunden zu einer Wette zwischen Malko und Schostakowitsch: Schostakowitsch sollte die Musik, nachdem er sie einmal gehört hatte, innerhalb nur einer Stunde aus dem Gedächtnis aufschreiben, orchestrieren und vorspielen. Schostakowitsch stellte sein erstaunliches Gehör und Gedächtnis unter Beweis und komponierte in nur 45 Minuten den Tahiti Trot. Die neun Töne umfassende Melodie übernahm er und stellte dafür die Instrumente in den Mittelpunkt: Ob Xylophon, Trompeten oder Holzblöcke – fast alle Instrumente erhalten hier ein Solo und wechseln sich mit fließenden Streichern ab. Seit dem internationalen Erfolg von Schostakowitschs 1. Sinfonie 1925 beschäftigte sich auch Darius Milhaud mit dem jungen Komponisten, über den er in seinen Notes sans musique seine Bewunderung festhielt.
Lateinamerikanisches Flair meets französischen Surrealismus
Darius Milhauds Ochse auf dem Dach (Le Bœuf sur le toit) hat nichts mit Tennessee Williams’ Katze auf dem heißen Blechdach (Cat on a Hot Tin Roof) oder Jerry Bocks Anatevka oder Der Fiedler auf dem Dach (The Fiddler on the Roof) zu tun. 1920 kam diese Fantasie* in der Comédie des Champs-Élysées zur Uraufführung – ein musikalisches Mitbringsel aus Milhauds zweijährigem diplomatischen Brasilien-Aufenthalt. Sein Studium der brasilianischen Folklore brachte eine harmonisch vielschichtige Rhythmus-Bombe in die französische Musik-Melancholie der Zeit. Ursprünglich für eine Stummfilmkomödie Charlie Chaplins gedacht, riss sich Jean Cocteau das Stück für eine Ballett-Pantomime* mit dem Titel The Doing-Nothing-Bar unter den Nagel, und zwar mit so großem Erfolg, dass sogar eine echte Pariser Bar danach getauft wurde. Eine Bar, in der bald die gesamte Pariser Avantgarde rund um Milhaud und Cocteau verkehrte. Die Handlung der Ballett-Pantomime spielt während der Prohibition in den USA. In einer Bar treffen sich ein Boxer, eine rothaarige Frau in Männerkleidung, ein Buchmacher, ein Mann im Galakleid und ein Billard-Spieler. Als ein Polizist die Bar betritt, verwandelt sie sich flugs in eine Milchbar. Der Barmann köpft den Gendarmen kurzerhand mit dem Ventilator, die Frauen tanzen einen makabren Tanz mit dem abgeschlagenen Kopf, und als alle die Bar verlassen, belebt der Barmann den Polizisten wieder und serviert ihm die Rechnung des Abends. Themen wie das anfängliche »Barkeeper-Thema« in C-Dur, der »Tanz des Buchmachers« oder der »Tango der zwei Frauen« durchziehen dieses mitreißende polytonale* Werk. Melodien in zwölf Dur-Tonarten werden wie ein Rondo* durchschritten, häufige Rhythmuswechsel, teilweise vier gleichzeitig erklingende Tonarten und zahlreiche Zitate populärer brasilianischer Musik unterstreichen die Lebhaftigkeit von Milhauds brasilianischem Ton-Puzzle. Trotz der positiven Rezeption war der Komponist unzufrieden und sah sein brasilianisches Meisterwerk ungern als clowneskes Werk. Dennoch brachte er den Ochsen mit Cocteau in London zur Premiere, wo er unter tobendem Applaus fünf Mal wiederholt werden musste.
Barocker Tango
»Ich kam in Mar del Plata zur Welt, wuchs in New York auf und fand meinen Weg in Paris. Aber jedes Mal, wenn ich auf ein Podium steige, dann wissen die Leute, dass ich argentinische Musik spiele, die Musik von Buenos Aires.« So fasste Astor Piazzolla sein Leben zusammen. Erste Erfolge feierte er als Mitglied des renommierten Tango-Orchesters von Aníbal Troilo, verfolgte aber auch eine Karriere als klassischer Komponist und nahm Unterricht bei Alberto Ginastera. Sein Verhältnis zum Tango war ursprünglich zwiespältig, denn er sicherte seine Einkünfte, obwohl er sich doch der Kunstmusik zugewandt hatte. 1954 erhielt er ein Stipendium des Pariser Konservatoriums und studierte bei Nadia Boulanger. Sie ermutigte ihn dazu, seine Wurzeln im Tango nicht zu verleugnen. So vereinte Piazzolla in seinen Kompositionen Klassik und Tango im Nuevo Tango. Dieser »Neue Tango« war zum Zuhören, nicht als Tanzmusik gedacht. Piazzolla erweiterte die Harmonik des Tangos mit Mitteln des Jazz. Neue Spieltechniken wurden mit Anleihen an die Neue Musik ergänzt, von Bogenschlägen über Glissandi bis zu virtuosen Bandoneonläufen. Dass er dafür erst als Totengräber des Tangos verschrien wurde, konnte Piazzollas Ruf verkraften, dessen Stücke wie Oblivion (Vergessen) weltberühmt geworden sind. Regisseur Marco Bellocchio machte Oblivion 1984 mit seinem Film Heinrich IV. bekannt. Piazzolla komponierte diese lyrische Milonga* 1982 in New York, ursprünglich für Bandoneon, Klavier und Bass. Bandoneonist Christian Gerber hat dieses und die anderen drei Werke des Programms aus der Feder des Tango-Meisters für Quartett und Streicherbesetzung arrangiert.
Der langsame Rhythmus und die nostalgische Melodie Oblivions kontrastieren anfangs mit dem in Adiós Nonino (Auf Wiedersehen, Nonino, 1959) markierten, teils marschierenden Rhythmus, der sich in eine melancholische, süße Melodie auflöst. Piazzolla komponierte diesen Tango als Hommage an seinen Vater Vincente Piazzolla, Nonino genannt, kurz nachdem er von dessen Unfalltod erfahren hatte. Im Stück prägt sich Astor Piazzollas eigener kammermusikalischer Stil aus, der auf kontrapunktische Techniken und eine tonale Musiksprache setzt, wobei George Gershwins Einfluss unverkennbar ist. Seine Liebe zu Johann Sebastian Bach wiederum kommt in der Fugata zum Ausdruck, in der er sich fugenhafter*, sich einander jagender und voreinander fliehender Motive bedient und sie mit Tango-Rhythmen und -Instrumentarium vereint. Die Fugata ist Teil der Tangata – Silfo y Ondina, wobei die mythischen Wesen Silfo (Sylphe) und Ondina (Undine) für die Luft und das Wasser stehen und von Piazzolla als seine Beschützer:innen angesehen wurden. Das letzte Stück des Konzerts, Tangazo, beginnt mit einer düsteren, westlich-modern klingenden Einleitung und lotet die ganze große Klangwelt Piazzollas aus, wobei die leidenschaftliche Intensität und lyrische Nostalgie im langsam ausblutenden Ende nicht versiegt, sondern noch im Raum schweben bleibt.
Der langsame Rhythmus und die nostalgische Melodie Oblivions kontrastieren anfangs mit dem in Adiós Nonino (Auf Wiedersehen, Nonino, 1959) markierten, teils marschierenden Rhythmus, der sich in eine melancholische, süße Melodie auflöst. Piazzolla komponierte diesen Tango als Hommage an seinen Vater Vincente Piazzolla, Nonino genannt, kurz nachdem er von dessen Unfalltod erfahren hatte. Im Stück prägt sich Astor Piazzollas eigener kammermusikalischer Stil aus, der auf kontrapunktische Techniken und eine tonale Musiksprache setzt, wobei George Gershwins Einfluss unverkennbar ist. Seine Liebe zu Johann Sebastian Bach wiederum kommt in der Fugata zum Ausdruck, in der er sich fugenhafter*, sich einander jagender und voreinander fliehender Motive bedient und sie mit Tango-Rhythmen und -Instrumentarium vereint. Die Fugata ist Teil der Tangata – Silfo y Ondina, wobei die mythischen Wesen Silfo (Sylphe) und Ondina (Undine) für die Luft und das Wasser stehen und von Piazzolla als seine Beschützer:innen angesehen wurden. Das letzte Stück des Konzerts, Tangazo, beginnt mit einer düsteren, westlich-modern klingenden Einleitung und lotet die ganze große Klangwelt Piazzollas aus, wobei die leidenschaftliche Intensität und lyrische Nostalgie im langsam ausblutenden Ende nicht versiegt, sondern noch im Raum schweben bleibt.
Glossar
Fantasie (von lat. phantasia = Gedanke, Einbildung) Fantasie werden seit dem 16. Jh. Musikstücke ohne feste Form bezeichnet. Betont wird der emotionale und expressive Ausdruck des musikalischen Einfalls im Sinne einer notierten Improvisation. Seit dem ausgehenden 18. Jh. ist die Fantasie oft ein Instrumentalstück für ein Tasteninstrument und wurde im 19. Jh. virtuos weiterentwickelt.
Foxtrott Paarweise getanzter Gesellschaftstanz, der in den 1910er Jahren in Nordamerika entstand und auf einen 4/4-Takt getanzt wird.
Fuge (von lat. fuga = Flucht) ist ein musikalisches Kompositionsprinzip, bei dem ein Thema oder Motiv in einer streng geregelten Anordnung nacheinander in verschiedenen Stimmen auftritt und entwickelt wird. Einen fugenähnlichen Abschnitt innerhalb eines Musikstücks nennt man Fugato.
Milonga ist eine fröhlich-schnelle Tanzgattung mit 2/4-Takt aus Argentinien.
New-Orleans-Jazz Stilrichtung des klassischen Jazz, entstanden zwischen 1890 und 1928, benannt nach seinem Ursprungsort. Vorgänger waren der Jazz der sog. Street Bands oder Straßenkapellen sowie der Ragtime, eine komponierte Klaviermusik mit synkopierter Melodieführung ohne die für den Jazz typische Improvisation.
Orgelpunkt ein liegender bzw. melodisch gleichbleibender Basston, zu dem sich andere Stimmen harmonisch frei bewegen.
Pantomime Darbietung, bei der die Darsteller:innen ohne Worte, nur mit Mimik und Gestik, einen Inhalt vermitteln und sich somit über Sprachgrenzen hinweg verständlich machen können. Als musikalische Form verbreitete sich die Pantomime im 18. Jahrhundert als getanztes Gegenstück zum höfischen Ballett.
Polytonalität ist ein Kompositionsverfahren, bei dem verschiedene Tonarten überlappt werden, sodass zur selben Zeit mehrere Tonarten zu hören sind. Komponisten, die sich dieser Technik bedienten, sind bspw. Igor Strawinsky oder Béla Bartók.
Rondo Musikalische Form seit dem 17. Jahrhundert, bei der sich ein gleichbleibender Formteil mit verschiedenen anderen Teilen abwechselt (ABACADAE…). Ein Rondo kann als eigenständige Komposition oder als Formprinzip
eines größeren Werks erklingen.
Foxtrott Paarweise getanzter Gesellschaftstanz, der in den 1910er Jahren in Nordamerika entstand und auf einen 4/4-Takt getanzt wird.
Fuge (von lat. fuga = Flucht) ist ein musikalisches Kompositionsprinzip, bei dem ein Thema oder Motiv in einer streng geregelten Anordnung nacheinander in verschiedenen Stimmen auftritt und entwickelt wird. Einen fugenähnlichen Abschnitt innerhalb eines Musikstücks nennt man Fugato.
Milonga ist eine fröhlich-schnelle Tanzgattung mit 2/4-Takt aus Argentinien.
New-Orleans-Jazz Stilrichtung des klassischen Jazz, entstanden zwischen 1890 und 1928, benannt nach seinem Ursprungsort. Vorgänger waren der Jazz der sog. Street Bands oder Straßenkapellen sowie der Ragtime, eine komponierte Klaviermusik mit synkopierter Melodieführung ohne die für den Jazz typische Improvisation.
Orgelpunkt ein liegender bzw. melodisch gleichbleibender Basston, zu dem sich andere Stimmen harmonisch frei bewegen.
Pantomime Darbietung, bei der die Darsteller:innen ohne Worte, nur mit Mimik und Gestik, einen Inhalt vermitteln und sich somit über Sprachgrenzen hinweg verständlich machen können. Als musikalische Form verbreitete sich die Pantomime im 18. Jahrhundert als getanztes Gegenstück zum höfischen Ballett.
Polytonalität ist ein Kompositionsverfahren, bei dem verschiedene Tonarten überlappt werden, sodass zur selben Zeit mehrere Tonarten zu hören sind. Komponisten, die sich dieser Technik bedienten, sind bspw. Igor Strawinsky oder Béla Bartók.
Rondo Musikalische Form seit dem 17. Jahrhundert, bei der sich ein gleichbleibender Formteil mit verschiedenen anderen Teilen abwechselt (ABACADAE…). Ein Rondo kann als eigenständige Komposition oder als Formprinzip
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