Die Kunst der Variation

Von Klezmorim über Gustav Mahler zu Uri Caine – Eine Einführung zum Neujahrskonzert Alles auf los von Leonie Held
D ie erste Frage, die bei der Planung einer jüdischen Hochzeit in der osteuropäischen Diaspora geklärt werden musste, war stets: »Welche Klezmorim werden spielen?«

Bereits seit dem Altertum war die Musik, insbesondere der Gesang, ein unabdingbarer Bestandteil des jüdischen Lebens. An allen Festtagen wie dem Purim-Fest, dem Shabbath und dem Pessach-Fest wurde gesungen, ebenso bei nationalen Feiertagen und sämtlichen privaten Gelegenheiten.

Gab es eine osteuropäisch-jüdische Hochzeit (Chassene) zu feiern, war dies ein ganz besonderer Tag: Solch ein gesellschaftliches Ereignis brachte eine willkommene Abwechslung zum eintönigen Alltag mit sich. Das gesamte jüdische Schtetl kam zusammen und feierte ausgelassen mit Instrumentalmusik die Vereinigung zweier Menschen. Doch nicht allein bei der Trauung und der Hochzeitsfeier an sich wurde gesungen und getanzt – auch bei allen vorbereitenden Treffen der Familien mussten Klezmorim* vertreten sein!

Tänze wie die Hora, der Frejlachs der Sher und der Broyges, die mitunter auch im heutigen Programm
zu hören sind, zeugen noch immer von dieser Tradition.

Alles auf los


Das Neujahrskonzert mit Klezmer, Mahler und Uri Caine

Jüdische Musik in der Dias­pora

Die nicht-religiöse jüdische Musiktradition lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Bereits zu dieser Zeit nahm das Judentum im künstlerischen Austausch mit nicht-jüdischen Musikern folkloristische Einflüsse aus verschiedenen Ländern und Kulturen auf und integrierte sie in seine eigene Musiksprache. Diese Anpassungsfähigkeit des Judentums an soziale und kulturelle Gegebenheiten sowie seine Offenheit gegenüber anderen Kulturen ist eine der Eigenschaften des jüdischen Volkes, die seit seiner Zerstreuung in die Welt sein Überleben sicherten. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass in der aschkenasischen Klezmermusik neben Elementen der religiösen jüdischen Musik mitunter Einflüsse aus der Tanzmusik der Renaissance, des Barock, des griechisch-osmanischen Raumes sowie der böhmischen Folklore wiederzufinden sind.

Die Blütezeit des Klezmers, der ab der Renaissance in Zentral- und Osteuropa entstand, lag zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Während dieser Periode wurde nahezu das gesamte gesellschaftliche Leben des osteuropäischen Judentums von der Musik der Klezmorim begleitet. In Russland und der Ukraine waren sie sogar außerhalb der jüdischen Welt sehr gefragt. Die Klezmer-Ensembles (»Kapellen« genannt, jiddisch: Kapelye) bestanden dabei meistens aus nur drei bis fünf Holzblas- oder Streichinstrumentalisten.

Unerschöpflicher Erfindungsreichtum

Das Erfolgsrezept dieser Musizierenden war ihre Authentizität. Sie verliehen gängigen Melodien während des Spielens eine neue, eigene Färbung, indem sie stets ihren spontanen Eingebungen folgten. Sie strebten nicht bewusst nach künstlerischer Neuerung oder Weiterentwicklung, wie es die kompositorischen Köpfe der Kunstmusik taten – sie schufen neue Musik, indem sie spielten. Die Folklore der Klezmorim war daher vielfältig, durchdringend, dynamisch, impulsiv, organisch und unverstellt.

Die musikalische Struktur des Klezmers bot für diese Improvisationskunst eine perfekte Grundlage. Die Melodie, mit lauter, an die »orientalische Vergangenheit« erinnernden Verzierungen und krekhts (Schluchzern) verziert, wurde auf langgezogenen begleitenden Akkorden dargeboten. Charakteristisch für den Klezmer waren zudem Vorhalte und übermäßige Tonschritte. Diese Besonderheiten verliehen dem Klezmerklang eine dem Judentum typische Mischung aus Melancholie, Sehnsucht und Lebensfreude.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ging das traditionelle Klezmermusikantentum zunächst durch die Pogrome in Russland und schließlich durch den Holocaust verloren. Seine »Wiedergeburt« fand der Klezmer in veränderter Erscheinung erst in den 1970er Jahren – in den USA.

Das »Klezmer Revival« in Amerika

Bis ins Jahr 1924 emigrierten ca. 2,5 Millionen osteuropäische Menschen jüdischen Glaubens in die USA. Die meisten davon blieben in New York, andere gingen in andere große Städte wie Philadelphia und Boston. Die Klezmorim unter ihnen mussten bald feststellen, dass Klezmermusik jenseits ostjüdischer Hochzeiten kaum gefragt war, sie sogar abgewertet wurde.

Diejenigen, die sich ab diesem Zeitpunkt ihren Lebensunterhalt nicht anderweitig verdienten, gründeten nun teilweise Orchester, die Elemente jiddischer Musik und des Klezmers mit Elementen des Jazz oder Swing kombinierten. Auch beteiligten sie sich zunehmend an der vokalen jiddischen Populärmusik sowie am aufkommenden jiddischen Theater und Film.

Die Integration der ehemaligen Klezmorim in den amerikanischen Unterhaltungsmarkt führte dazu, dass ab den 1920er Jahren Klezmer-Einflüsse auch im amerikanischen Jazz erlebbar wurden. Die Kombination von Jazz und Klezmer ist vor allem in den Werken amerikanisch-jüdischer Komponisten wie George Gershwin, Aaron Copland und Leonard Bernstein zu hören.

Ab den 1930er Jahren ließ das Interesse der jüdischen Immigrant:innen und deren Nachkommen an der Klezmertradition zusehends nach. Allein in Brooklyn, wo bis heute die meisten Chassidim außerhalb Israels leben, blieb die chassidische Musiktradition erhalten. Dies sollte sich erst ab Mitte der 1970er Jahre ändern. Dank Musiker:innen wie Zev Feldman, Andy Statman und Gruppen wie The Klezmorim (1976) und die Klezmer Conservatory Band (1980) kam es in dieser Zeit zu einem ersten »Revival« der Klezmer-Musiktradition; wobei die bisher nur instrumentale Musik mit jiddischem Gesang kombiniert wurde.

Die zweite Periode des »Klezmer Revivals« ereignete sich ab den 1980er Jahren, als Musiker:innen nach Aufzeichnungen und Transkriptionen des ursprünglichen Klezmers forschten. In dieser Zeit fand der neue Klezmerstil erstmals internationale Beachtung. Des Weiteren kam er in den 1990er Jahren mit anderen populären Musikrichtungen wie Jazz, Rock, Punk und elektronischer Musik in Berührung. Mit der ursprünglichen Klezmermusik hatte der neue Klezmer aber kaum noch etwas zu tun.

Uri Caine und die Enthüllung neuer Lesarten

Auch am heutigen Abend wird der Klezmer nicht in seiner ursprünglichen Form zu hören sein. Der Kopf hinter dem dargebotenen Programm ist der in Philadelphia (Pennsylvania) geborene Pianist, Komponist und Arrangeur Uri Caine. Selbst einer jüdischen Familie entstammend, beschäftigte er sich seit den 90er Jahren mit der Fusion verschiedener musikalischer Stile wie dem Klezmer, klassischer Musik, Jazz und Funk. Seit den 70ern ist er als Jazz-Pianist in Philadelphia bekannt, seit den späten 80ern hat er sich auch in New York einen Namen gemacht.
Das Album Urlicht/Primal Light (1997) ist wohl Caines erfolgreichste Veröffentlichung. In diesem arrangiert er verschiedene Werke Gustav Mahlers in einer Synthese aus Klezmer, Elektronik und Jazz. Doch Caine hüllt Mahlers Musik nicht einfach nur in ein anderes musikalisches Gewand; vielmehr »dekonstruiert« er dessen Werk im Sinne Jacques Derridas, sprich: Er hinterfragt die bisherigen Lesarten von Mahlers Musik und versucht, mittels Improvisation des gegebenen musikalischen Materials aufzudecken, auf welch vielfältige Art und Weise dieses noch interpretiert, gar verstanden werden kann. Dementsprechend hat Uri Caines Herangehensweise etwas mit der Improvisationspraxis der historischen Klezmorim gemein, welche stets den Ausdruck des unmittelbaren musikalischen Augenblicks zur Aufgabe nahmen und dadurch eine unerschöpfliche Bandbreite an Variationen kreierten.

»Dreifach heimatlos« – Gustav Mahler und das Judentum

In seinen Auseinandersetzungen mit Gustav Mahlers Werken interessiert Uri Caine vor allem ein Thema, dessen Relevanz in musikwissenschaftlichen Kreisen bis heute breit diskutiert wird: Gustav Mahlers Beziehung zum Judentum. Im Jahre 1860 als Sohn jüdischer Eltern im böhmischen Dorf Kalischt (Kaliště, heute: Tschechien) geboren und in Iglau (Jihlava, damals: Mähren) aufgewachsen, zählt Gustav Mahler zu den jüdischen Individuen des

19. Jahrhunderts, die sich im Emanzipationsprozess gegenüber ihrer nichtjüdischen Umgebung stets behaupten mussten. So ist bekannt, dass er sich sein Leben lang zwischen seinen verschiedenen Identitäten hin- und hergerissen fühlte. Davon zeugt sein wohl bekanntester Ausspruch: »Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.«
Im Februar 1897 konvertierte Gustav Mahler im Alter von 37 Jahren zum Katholischen Glauben. Dieser Schritt war zweifellos taktischer Natur, trat er in diesem Jahr doch die Position des Chefdirigenten der Hofoper in Wien an – der Stadt, die Jens Malte Fischer im Mahler-Handbuch (2010) treffenderweise als »Antisemitismus-Labor der Epochenschwelle« bezeichnet.

Mahlers jüdischer Kern

Namhafte Personen wie Max Brod und Leonard Bernstein vertraten Zeit ihres Lebens die These, dass Mahlers Musik allein unter der Einbeziehung seiner jüdischen Herkunft verstanden werden könne. In seiner Gedenkrede zum 100. Geburtstag Mahlers am 7. Juli 1960 machte Max Brod auf einige Eigenheiten in Mahlers Musik aufmerksam, die, wenn auch dem Komponisten »unbewußt«, einer »urjüdischen Grundempfindung« entsprängen. Darunter zählten Brods Expertise zufolge: der in mehreren Werken wiederkehrende Marschrhythmus, die Verwendung von zwischen Dur und Moll wechselnden Melismen und die oftmalige Eigenschaft der Melodien Mahlers, »sich langsam in Bewegung zu setzen«. Mahler sei, so Brod abschließend, aber vor allem ein »Erneuerer und Neuerer« gewesen, der, die »Variationsform liebend«, eine »Vorschau auf die Moderne« geliefert hätte.
Mahlers Vorliebe für die Variation nimmt Caine als Ausgangspunkt der Improvisation. Weiterhin stellt Caine mithilfe des erzeugten Kontrasts des klein besetzten Jazztrios zur gewaltigen Sinfonik Gustav Mahlers eine klangliche Verbindung zum Klezmer her, die auf den »jüdischen Kern« Mahlers aufmerksam machen soll. Dass Caine Mahlers Werke mit populären Stilrichtungen wie dem Jazz kombiniert, ist dabei vermutlich ganz in Mahlers Sinne. Dieser schockierte nämlich 1889 seine damaligen Zeitgenoss:innen, als er das französische Volkslied Frère Jacques als trauermarschartige Moll-Version in den dritten Satz seiner 1. Sinfonie integrierte. Welch ein Skandal, die höchste musikalische Gattung der Sinfonie mit Volksmusik zu degradieren!

Eine weitere Besonderheit stellen in der 1. Sinfonie die volksmusikalischen, heiteren Einwürfe dar, mit welchen Mahler den Trauermarsch im ersten Trio unterbricht: Aufgrund des »jauchzenden« Tons der Klarinette kann man diesem durchaus ein klezmerisches Temperament zusprechen.

Im zweiten Trio des dritten Satzes zitiert Mahler weiterhin eine eigene Melodie, die in der ersten Hälfte des heutigen Programms zu hören ist: Es ist die Passage aus seinem Lied »Die zwei blauen Augen von meinem Schatz« aus dem Zyklus Lieder eines fahrenden Gesellen (1883–1885). Mahlers Variationskunst wird hier deutlich sichtbar: Jeder Vers wiederholt das Motiv des vorherigen, doch jedes Mal in einer subtil veränderten Form. Die Melodie setzt sich, ganz in Übereinstimmung mit Brods Beschreibung, nur »langsam in Bewegung«.

Das Programm in Kürze

Neben den Kompositionen Gustav Mahlers komplettieren am heutigen Abend einige Eigenkompositionen Uri Caines das Programm: Neshama (hebräisch für »Seele«), Sonia Said (das Caine 2006 mit Paolo Fresu veröffentlichte), sowie Song for my father. Zudem wird ein weiteres berühmtes Werk von Caine und seinem Trio »dekonstruiert«: das Rondo Alla Turca aus der Klaviersonate Nr. 11 von Wolfgang Amadeus Mozart. Hatte Caine dies in seinem Album Uri Caine Ensemble plays Mozart (2006) bereits in unbekannte Gefilde des Jazz, des psychedelischen Rocks und der elektronischen Musik entführt, adaptiert er es heute als einen terkishen Tanz.

Den größten Raum des Programms nehmen allerdings traditionelle jüdische Melodien und Tänze ein. Sie werden nicht nur vom Uri Caine Trio interpretiert, sondern finden ihren Weg auch in die von Uri Caine für Orchester arrangierten Medleys. So erklingen unter anderem Oh Yossel, Yossel, die Frejlachs A Nakht in Gan Eden, Die Goldene Khasene und Baym shotser rebn oyf shabes sowie die Bulgar-Tänze Epstein’s Bulgar und Der Shtiler Bulgar. Die Melodien hinter den Titeln Broyges Tantz, Bobover Wedding March und Ufaratsta sind chassidischen Ursprungs.

Am populärsten sind die jiddischen Lieder, die ab den 1930er Jahren auf amerikanischem Boden entstanden: Papirosn, Dona Dona und Der Chasene Waltz. Der Text zu Papirosn (»Zigaretten«) wurde in den 1920er Jahren von Herman Yablokoff auf eine traditionelle Volksmelodie geschrieben. Er handelt von einem jüdischen Waisenkind, das, um zu überleben, Zigaretten auf der Straße verkauft. Einen ähnlich düsteren Inhalt hat das Lied Dona Dona (1940) von Sholom Secunda (Melodie) und Aaron Zeitlin (Text): Hier wird, an den Transport ins Konzentrationslager erinnernd, der Weg eines Kalbes zu seiner Schlachtbank beschrieben, begleitet von einer Schwalbe. Die Aussage: Wäre das Kalb als Schwalbe geboren worden, hätte es davonfliegen können. Etwas versöhnlicher ist dagegen das vom Liebesglück handelnde Lied Der Chasene Waltz (»Der Hochzeitswalzer«). Dieses wurde vermutlich in den 1930er Jahren von Chaim Tauber auf die Musik von Iosif Ivanovici geschrieben.
Bereits im 19. Jahrhundert unter den Aschkenasim sehr verbreitet war das Lied Oyfn Pripetshik (»Auf der Herdstelle«) von Mark Markowytsch Warschawsky. Es ist aus der Perspektive eines Rabbis geschrieben, der seinen Schüler:innen das Alephbet (hebräisches Alphabet) beibringt. In den letzten beiden Strophen ist das Leid des europäischen Judentums omnipräsent. So heißt es dort: »Wenn ihr älter werdet, Kinder, werdet ihr es selbst verstehen, wie viele Tränen in diesen Buchstaben [der Torah] stecken, und wie viel Klage.«

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Trotz aller Widrigkeiten, denen sich das Judentum seit jeher ausgesetzt sah, gelang es ihm damals wie heute, sich in seiner Musik einen hauptsächlich fröhlichen, lebensbejahenden Duktus zu bewahren. Die Klezmermusik soll daher im heutigen Neujahrskonzert nicht nur ungewohnte Perspektiven auf scheinbar Vertrautes bieten, sondern auch in wieder dunkler werdenden Zeiten vor allem eines vermitteln: Hoffnung auf eine tolerantere und friedlichere Welt.
Januar 2025
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Mi
1.
Jan
18:00
Sinfoniekonzert
Schillertheater – Großer Saal

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