Nase weg! So ein Schreck!

Ein Gesicht ohne Nase – ein Schock! Denn eine Nase steht für Würde, Macht und Scharfsinn. Und wurde deshalb oft geopfert, verspottet oder geformt. Im Krieg schlug man sie Gefangenen ab. Chirurgen kämpften darum, sie zu rekonstruieren. Und Künstler:innen machten sie zum Symbol: Gogol ließ sie eigenständig durch St. Petersburg wandern. Und Schostakowitsch brachte sie tanzend auf die Opernbühne. Eine Nase ist mehr als ein Körperteil. Sie erzählt Geschichten – in Die Nase über Paranoia, Identität und die absurde Willkür gesellschaftlicher Strukturen. Eine Einführung in die Nasologie.

von Ulrich Lenz
Wir sind der Überzeugung […], dass da mehr in einer Nase ist, als es den meisten Besitzern dieses Anhängsels gemeinhin bewusst ist«, erklärt George Jabet in seinen 1852 in London veröffentlichten Notes on Noses. In der Tat wird die Bedeutung dieses oftmals vergessenen oder trotz seiner herausragenden Stellung schlichtweg übersehenen Körperteils erst dann klar, wenn das »Anhängsel« fehlt: Ein Mann ohne Nase wird nicht länger als menschliches Wesen, sondern als hässliche und abstoßende Kreatur betrachtet – wie Harry Potters finsterer Gegenspieler Lord Voldemort, der nur mehr schlitzartige Nüstern anstatt einer Nase besitzt. In alten Zeiten schlugen Soldaten im Krieg den Statuen fremder Gottheiten, aber auch Gefangenen oder auf dem Schlachtfeld Gefallenen die Nasen ab als Zeichen der Entmenschlichung und Erniedrigung. »Ein Mensch ohne Nase – der Teufel weiß, was das ist: nicht Fisch und nicht Fleisch«, klagt der nasenlose Kollegienassessor Kowaljow in Nikolai Gogols Erzählung Die Nase. »Man kann ihn einfach nehmen und zum Fenster hinauswerfen. Und hätte ich sie noch im Kriege oder im Duell oder auf eine andere selbstverschuldete Art verloren, aber um nichts und wieder nichts, ohne Not, nicht einen Groschen habe ich dafür bekommen.«

Die Nase


Oper in drei Akten nach der gleichnamigen Erzählung von Nikolai W. Gogol [1930]
Libretto von Dmitri D. Schostakowitsch, Jewgeni I. Samjatin, Georgi D. Ionin und Alexander G. Preis
Deutsche Textfassung von Ulrich Lenz

Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, der Sydney Opera und dem Teatro Real Madrid

Nasen­wunder – Die Kunst der Rhino­plastik

Die frühesten Beispiele von Rekonstruktionen verstümmelter Nasen finden sich in Indien bereits um 600 v. Chr. Im Europa des 16. Jahrhunderts schuf der französische Kriegschirurg Ambroise Paré Nasenprothesen für Versehrte. Der dänische Astronom Tycho Brahe (1546 –1601), der als junger Mann bei einem Duell mit einem Kommilitonen (aus Streit um eine mathematische Formel!) einen Teil seiner Nase verloren hatte, trug fast sein ganzes Leben lang eine falsche Nase, zunächst aus Wachs, später dann aus einer Kupfer­-Silber­-Legierung. Obwohl bereits in dieser Zeit erste Versuche gemacht wurden, Nasen aus menschlichem Gewebe zu rekonstruieren, begann die Ära der eigentlichen europäischen Rhinoplastik (vom griechischen ῥίς rhīs = Nase und πλάσσειν plattein = bilden, formen, gestalten) erst im frühen 19. Jahrhundert in England, als Joseph Constantine Carpue 1816 An Account of Two Successful Operations for Restoring a Lost Nose veröffentlichte. Nur zwei Jahre später folgte der deutsche Mediziner und Chirurg Karl Ferdinand von Graefe mit seiner Arbeit Rhinoplastik od[er] d[ie] Kunst, d[en] Verlust d[er] Nase organ[isch] zu ersetzen, in ihren früheren Verhältnissen erforscht u[nd] durch neue Verfahrensweisen z[ur] höheren Vollkommenheit gefördert. Alsbald wurde das Anbringen einer Nase mit den Mitteln der plastischen Chirurgie zum Gesprächsthema Nr. 1 in den gebildeten Kreisen Europas. Der in Berlin praktizierende Chirurg Johann Friedrich Dieffenbach (1792 –1847), eine Koryphäe auf diesem Gebiet, wurde so berühmt, dass man sogar auf der Straße Lieder über ihn sang: »Wer kennt nicht Doktor Dieffenbach, den Doktor der Doktoren! Er schneidet Arm und Beine ab, macht neue Nas’ und Ohren.«

Nasologie – Die Nase als Cha­rakter­merk­mal

Kein Wunder, dass die Nase ihren Weg auch in die Literatur fand. Der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895–1975) nennt die Nase gar das am weitesten verbreitete Motiv der Weltliteratur und verweist auf die unzähligen, in der ganzen Welt gebräuchlichen Redewendungen, die sich der Nase bedienen (wie zum Beispiel »der eigenen Nase folgen«, »seine Nase in etwas stecken« oder »die Nase voll von etwas haben« – um nur drei einer endlosen Reihe von Beispielen allein im Deutschen anzuführen).
Darsteller mit roter Nase im Scheinwerferlicht schaut durch einen Vorhang
In Laurence Sternes 9­bändigem Opus The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, veröffentlicht zwischen 1759 und 1767 und im englischsprachigen Raum von überaus großem Einfluss (»Ist irgendwer so dumm gewesen / und hat den Tristram nicht gelesen?«, reimt Sternes jüngerer Zeitgenosse James Boswell), ist die Nase immer wieder Gegenstand pseudophilosophischer Gedankengänge. Denn die Familie Shandy ist bedauerlicherweise mit eher kleineren Exemplaren des Riechorgans gesegnet, weshalb der Vater des Titelhelden geradezu besessen ist von der Beschäftigung mit Nasen und als selbst ernannter Nasologe eine umfangreiche Bibliothek mit Werken zu diesem Thema sein eigen nennt, darunter auch das Traktat De Nasis (Über Nasen) aus der Feder des fiktiven deutschen Schriftstellers Hafen Slawkenbergius. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Vater Shandy umtreibende Frage, warum die Nasen der Menschen so unterschiedlich groß sind, begegnet uns auch der bereits erwähnte französische Chirurg Ambroise Paré wieder. Die Länge und Qualität von Nasen sei laut Paré »allein der Weichheit und Schlaffheit der Ammenbrust geschuldet. Denn die Plattheit und Kürze minderer Nasen resultiere aus der Festigkeit und dem elastischen Gegendruck des besagten Ernährungsorgans in seiner gesunden, straffen Form, die, obwohl ein Glück für die Frau, dem Kind zum Schaden gereiche, insofern als seine Nase dadurch so verbogen, gedrückt, gepresst und abgekühlt werde, dass sie niemals ad mensuram suam legitimam [zu ihrer angemessenen Größe] gelangen könne; wohingegen im Falle einer Schlaffheit und Weichheit der Mutterbrust oder der Brust der Amme die Nase in selbige wie in weiche Butter sinke, wodurch sie ermutigt, gehegt, erquickt, erfrischt und zu weiterem Wachstum ermuntert werde.« Neben der sexuellen Konnotation (über die noch zu sprechen sein wird) weisen diese und ähnliche Passagen in Sternes Werk in eine Richtung, die die Nasologie des 19. Jahrhunderts immer wieder einschlägt: die Verbindung zwischen der Form der Nase und dem Charakter ihres Trägers.

»Wir sind überzeugt«, führt George Jabet seine eingangs zitierte Erklärung fort, »dass sie [die Nase] nicht nur das Gesicht verschönert, nicht nur ein Atemorgan oder ein praktischer Griff ist, an dem man einen unverschämten Kerl packen kann, sondern ein wichtiges Indiz für den Charakter ihres Trägers darstellt.« Diese Worte weisen ihren Autoren als Kenner von Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775–78) aus, in denen Anleitungen zur Unterscheidung von Charaktereigenschaften anhand von Gesichtszügen und Körperformen gegeben werden. Jabet überträgt diese Theorien auf die Nase, indem er sie in sechs verschiedene Typen klassifiziert:

  1. Die römische Nase oder Adlernase
  2. Die griechische Nase oder geradlinige Nase
  3. Die Denkernase oder Nase mit weiten Nasenlöchern
  4. Die jüdische Nase oder Habichtsnase
  5. Die Stupsnase
  6. Die Himmelsnase oder nach oben gebogene Nase

Die römische Nase steht für »große Entschlusskraft, starke Energie, Bestimmtheit, fehlende Eleganz und Geringschätzung von allgemeinen Anstandsregeln«, die griechische Nase hingegen für »vornehmen Charakter, Liebe zu den schönen Künsten und zur Literatur, Scharfsinn, Geschicklichkeit und eine Vorliebe für indirekte statt direkte Handlungen«. Den antisemitischen Klischees seiner Zeitgenossen folgend verweist die jüdische Nase laut Jabet auf weniger positive Züge wie »Gerissenheit in weltlichen Angelegenheiten; tiefe Einblicke in Charaktereigenschaften anderer und die Leichtigkeit, diese Erkenntnisse gewinnträchtig einzusetzen«. Mit derartigen Zuschreibungen schaffen Lavater und Jabet die Grundlage für die verhängnisvollen Rassentheorien des 20. Jahrhunderts.
Auch wenn wir heute dazu neigen, derartige Charakterisierungen als lächerlich abzutun, so zeugen doch zahlreiche prominente Fälle der Geschichte von der Tatsache, dass Zusammenhänge zwischen Nasenform und Charaktereigenschaften durchaus ernst genommen wurden. So schrieb kein Geringerer als Napoleon Bonaparte, dass er, wenn er einen guten Strategen benötigte, »wenn möglich stets einen Mann mit einer langen Nase« wählte. Ein halbes Jahrhundert später hätte der Kapitän der HMS Beagle beinahe Charles Darwin wegen seiner Knollennase abgelehnt. Man stelle sich den Verlust für die Welt der Wissenschaft vor, allein wegen einer unansehnlichen Nase!

Nasenkomplex und Nasenstolz

Eine hässliche Nase ist ein Makel, der ihren Träger zum Sonderling abstempelt, wie der Zwerg aus Wilhelm Hauffs Märchen Zwerg Nase von 1826 allzu bitter erfahren muss. Durch eine Hexe von einem hübschen kleinen Jungen in einen grässlichen Zwerg mit einer langen unförmigen Nase verwandelt, wird er sogar von seinen eigenen Eltern verstoßen. Der zwölfjährige Nikolai Gogol wird Ähnliches empfunden haben, als er auf die Oberschule ins rund 200 Kilometer vom Hof seiner Eltern entfernte Nischyn geschickt wurde, wo er aufgrund seiner außergewöhnlichen Erscheinung den Hänseleien seiner Klassenkameraden ausgesetzt war. Gogol war klein und von schwacher Konstitution, hatte krumme Beine, unreine Haut und eine lange und spitze Nase. Mit den Jahren jedoch fand Gogol einen Weg, sich zu verteidigen: Mit seiner Eloquenz und seinem Talent für Satire erkämpfte er sich den Respekt seiner Mitschüler, einen Respekt, der selbst in seinem Spitznamen – »der geheimnisvolle Zwerg« – noch durchscheint. Indem er später aus dem Doppelnamen des Vaters – Gogol-Janowski – ausgerechnet den ukrainischen Teil zu seinem Nachnamen wählte, demonstrierte Gogol einen ähnlichen Akt der Selbstbehauptung gegen die Lächerlichkeit. Denn im Russischen ist gogol (гоголь) nicht nur der Name einer Entenart (der Bucephala), sondern wird auch in der Redewendung »wie eine gogol daherkommen« gebraucht, was so viel bedeutet wie »sich geckenhaft benehmen«. Seine eigenen Erfahrungen mit körperlichen Auffälligkeiten aber sind sicherlich in seine 1835/36 entstandene, zu den sogenannten Petersburger Novellen zählende Erzählung Die Nase mit eingeflossen.

Wie ein ins Lächerliche gezogener Makel zu einer Art Auszeichnung umgedeutet werden kann, hat der vielleicht berühmteste Träger einer übergroßen Nase bewiesen: Cyrano de Bergerac, Held in Edmond Rostands gleichnamigem Versdrama von 1897. »Klein, meine Nase?!«, ruft Cyrano dort empört aus.

»Sie ist enorm! Vernimm, stumpfnäsiger Mikrocephale,
Dass ich voll Stolz mit diesem Vorsprung prahle; Denn zu erkennen ist an solcher Form
Der Mann von Geist, Charakter, Edelsinn, Von Herz und Mut, kurz alles, was ich bin.«

Als Quelle für Cyranos Nasentiraden diente Rostand die Komische Geschichte der Staaten des Mondes und der Sonne aus der Feder des historischen Cyrano de Bergerac (1619–1655), die 1657 posthum veröffentlicht wurde und in der der Autor die Geschichte seiner abenteuerlichen Reise zum Mond schildert samt der Begegnung mit den dortigen Bewohnern, die alle lange, auch als Sonnenuhren zu benutzende Nasen besitzen. Ein neugeborenes Mondkind wird zum Seminarmeister gebracht und »wenn sich seine Nase als kürzer als das stehende Maß erweist, […] wird es als Flachnase verurteilt und zur Kastration übergeben. […] wir tun dies, weil wir nach dreißig Zeitaltern der Erfahrung festgestellt haben, dass eine große Nase Zeichen eines geistreichen, höflichen, umgänglichen, großzügigen und toleranten Mannes ist; und dass eine kleine Nase Zeichen des Gegenteils ist, weshalb wir aus Flachnasen Eunuchen machen, denn die Republik tut besser daran, gar keine Kinder als solche Kinder zu haben.« Verkehrte Welt, dort oben auf dem Mond! Oder sind am Ende die Verhältnisse auf der Erde, wo Flachnasen die Regel sind, pervertiert?
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Nasenpotenz – »Wie die Nase eines Mannes …«

Die überbordende Prahlerei von Rostands Cyrano ist nicht zuletzt Ausdruck seiner ausgeprägten Virilität. Schon bei den alten Römern war der angebliche Zusammenhang zwischen Nase und Glied des Mannes sprichwörtlich: »Noscitur ex naso quanta sit hasta viri.« (Zu deutsch: »Aus der Nase kann man sehen, wie des Mannes Kräfte stehen.« oder volkstümlicher: »Wie die Nase eines Mannes, so ist sein Johannes.«) Beim mittelalterlichen Nasentanz, einer vor allem in Süddeutschland gepflegten Tradition in Form eines karnevalesken Brautwerbetanzes, wurde der Mann mit der längsten Nase zum »Nasenkönig« ernannt. Die erblich bedingt kleine Nase Tristram Shandys (siehe oben) ist zu allem Unglück bei der Geburt auch noch von der Geburtszange eingedrückt worden. Die sexuelle Konnotation dieser Deformation wird durch den Umstand offensichtlich, dass bedauerlicherweise auch das etwas tiefer sitzende Gegenstück abgeklemmt wird, als Tristram aus dem Fenster uriniert und just in diesem Augenblick das Schiebefenster herunterrutscht.

In Die Brautwahl beschreibt der romantische Dichter E.T. A. Hoffmann eine bizarre Nasenbegegnung zwischen der potenziellen Braut Albertine und einem ihrer Verehrer, dem jüdischen (!) Baron Benjamin Dümmerl aus Wien, genannt Bensch: »Benschs ansehnliche Nase schoss plötzlich zu einer solchen Länge hervor, dass sie, dicht bei Albertinens Gesicht vorbeifahrend mit einem lauten Knack hart anstieß an die gegenüberstehende Wand. Bensch prallte einige Schritte zurück, sogleich zog sich die Nase wieder ein. Er näherte sich Albertinen, dasselbe Ereignis; kurz hinaus, hinein schob sich die Nase wie eine Bassposaune.«

Der deutsch­jüdische Mediziner Wilhelm Fließ, Sigmund Freuds Freund und Wegbegleiter in den frühen Jahren der Psychoanalyse, war geradezu besessen von der Idee einer physischen Verbindung zwischen der Nase und den weiblichen Geschlechtsorganen. Fließ behandelte Fehlfunktionen des weiblichen Genitaltrakts (wie z. B. menstruationsbedingte Krämpfe) durch Operationen … der Nase! Obwohl die Nasenoperation der Publizistin und Frauenrechtlerin Emma Eckstein, einer Patientin Freuds, die dieser zur Behandlung ihrer »Nasenreflex­Neurose« an den Freund überwies, in einer Katastrophe endete, stellte Fließ seine Theorie 1897 (dem Jahr der Uraufführung von Rostands Cyrano de Bergerac) unter dem Titel Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen einer breiteren Öffentlichkeit vor.

Die Nase von Baron Bensch agiert in ungehöriger Weise unabhängig vom Willen ihres Besitzers. Wie Pinocchios Nase lehnt sie sich gegen ihren Träger auf und bringt ihn in eine unangenehme Situation, indem sie seine sexuelle Erregung verrät (in Benschs Fall) oder ihn als Lügner entlarvt (in Pinocchios Fall). (Gleichwohl lässt sich auch Pinocchios widerspenstige Nase ebenso wie das übergroße Exemplar des Zwerg Nase als Ausdruck pubertärer Erfahrungen mit der aufkeimenden Sexualität eines Heranwachsenden deuten.) Die ungezogenste all dieser aufmüpfigen Nasen jedoch ist der Gesichtserker des Kollegienassessors Kowaljow in Gogols Die Nase, da sie sich vollständig von ihrem Eigentümer trennt und ein Eigenleben zu führen beginnt. »Ich bin ich selbst«, sagt die Nase in ihrer kurzen Begegnung mit Kowaljow. »Und zudem kann es zwischen uns keinerlei enge Beziehungen geben.« Denn was vielleicht das Allerschlimmste für den armen Kowaljow ist: Seine eigene Nase genießt einen viel höheren sozialen Status als er selbst – was für eine Schande! Die Nase wird bei Gogol zu einer grotesken Version des romantischen Doppelgängers, jenes furchteinflößenden Alter Egos, welches das Ich mit seinen eigenen Ängsten und Unzulänglichkeiten konfrontiert.

Nasenträume – von Gogol zu Schosta­ko­witsch

Nasen waren in den Jahren vor der Entstehung von Gogols Nase auf literarischem Gebiet nur allzu beliebt: »Es war so, dass von den 20er bis zu den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts das Thema der Nase eine breite Popularität gewann«, schreibt der sowjetische Literaturwissenschaftler Juri Mann und verweist auf die in jenen Jahren erschienene russische Übersetzung der bereits erwähnten Arbeit Karl Ferdinand von Graefes über Rhinoplastik. Abermals befruchteten sich also Literatur und medizinische Wissenschaft. 1807 war Sternes bereits erwähnter Tristram Shandy ins Russische übersetzt worden. Zum Thema Nase vermerkt Gogol lapidar: »Dieser Gegenstand ist sehr fruchtbar, und darüber ist genügend geschrieben und zitiert worden.«
Nur am Rande sei erwähnt, dass die zahlreichen durch Granaten entstellten Soldaten des 1. Weltkriegs in den 20er und 3oer Jahren des 20. Jahrhunderts der plastischen Chirurgie im Allgemeinen, der Rhinoplastik im Besonderen zu neuer, schrecklicher Aktualität verhalfen. Ob dies dem 20­jährigen Schostakowitsch bei seiner Suche nach einem geeigneten Stoff für ein neuartiges Musiktheater der noch jungen Sowjetunion gewärtig war, ist nicht bekannt. Da er nach eigenem Bekunden bei den zeitgenössischen sowjetischen Schriftstellern nicht fündig wurde, wandte er sich alsbald »den drei Großen der russischen Satire« zu: Gogol, Saltykow-Schtschedrin und Tschechow. Er entschied sich für Gogols Nase, u. a. weil es sich um eine relativ kurze Erzählung handelte, weil er »ihren Text in der Sprachgestaltung klarer, ausdrucksvoller als die übrigen Petersburger Novellen« empfand und weil er »viele interessante szenische Vorgänge« darin sah. Nicht gering dürfte bei der Wahl des Sujets aber auch der Einfluss der Arbeiten des russischen Theatermachers Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold gewesen sein, der den jungen, noch mittellosen Komponisten nicht nur in seinem Theater als Korrepetitor beschäftigte, sondern auch zeitweise bei sich zuhause wohnen ließ. Meyerholds aufsehenerregende Inszenierung von Gogols Revisor im Jahre 1926 hatte auch den fast 30 Jahre jüngeren Schostakowitsch nicht unbeeindruckt gelassen.

Weite Teile des Librettos zu seiner Oper verfasste Schostakowitsch selbst, bei einigen Passagen griff er auf die Hilfe von insgesamt drei Mitarbeitern zurück. Was sich an wörtlicher Rede nicht in der Erzählung finden ließ, wurde mit Hilfe anderer Werke Gogols ergänzt. Freunde berichten davon, dass Schostakowitsch fähig war, längere Passagen aus dem Prosawerk Gogols aus dem Kopf zu zitieren. Wie schon vor ihm Mussorgski suchte auch Schostakowitsch in seinem Erstlingswerk für die Opernbühne (ein früher Opernversuch nach Puschkins Poem Die Zigeuner wurde vom Komponisten selbst nach Beendigung seiner Konservatoriumszeit vernichtet) nach einer Entsprechung von Text, Musik und Szene. »In der Nase sind die Elemente der Handlung und der Musik gleichberechtigt«, schreibt er. »Weder die eine noch die andere nehmen eine bevorzugte Stellung ein. Pausen sind zwischen den Akten. Jeder Akt aber ist Teil einer einheitlichen musikalisch-theatralischen Sinfonie.«

Orientiert sich Schostakowitsch hinsichtlich der Textvertonung an Werken wie Mussorgskis Die Heirat oder Der Jahrmarkt von Sorotschinzi (beide nach Vorlagen von Gogol),so bleiben hinsichtlich der formalen Anlage Werke der westlichen Avantgarde – allen voran Alban Bergs Wozzeck, dessen russische Erstaufführung Schostakowitsch 1927 in Leningrad erleben konnte – nicht ohne Einfluss auf den jungen Komponisten. Wie Bergs epochales Werk erinnert auch Die Nase in ihren harten Schnitten zwischen den Szenen an Techniken des neuen Mediums Film, das Schostakowitsch als Klavierbegleiter von Stummfilmen unmittelbar kennengelernt hatte. Ähnlich wie Berg im Wozzeck verwendet auch Schostakowitsch in seiner Nase Genres der Trivialmusik wie Polka, Walzer, Galopp oder Romanze, die er gleichberechtigt neben Formen der Sakralmusik (Choralgesang) oder der traditionellen klassischen Opern­ und Konzertmusik (sinfonisches Zwischenspiel, verschiedene Arientypen) montiert. Obwohl die Ausdruckspalette seines Orchesters vom Wimmern der Violinen zu den Klagen des jammernden Kollegienassessors bis zum Rülpsen und Furzen der Posaune nach durchzechter Nacht reicht, will Schostakowitsch mit seiner Musik jedoch nie »witzig« sein – so wie auch Gogol das groteske Geschehen um den Nasenverlust Kowaljows mit großer Ernsthaftigkeit schildert. »Unbeachtet der gesamten komischen szenischen Vorgänge, die Musik selbst stellt sich nicht komisch«, schreibt Schostakowitsch. »Ich setze auf den wahren Ton, so wie ja auch Gogol alle komischen Vorgänge im seriösen Ton wiedergibt. Darin liegen die Kraft und die Qualität des Gogolschen Humors. Gogol ›witzelt‹ nicht. Die Musik strebt ebenfalls nicht danach zu ›witzeln‹.«
Im Handlungsverlauf hält sich die Oper ziemlich genau an ihre Vorlage. Die Ergreifung der flüchtigen Nase jedoch, von der man in der Erzählung Gogols nur aus dem kurzen Bericht des Polizeioberhauptmeisters erfährt, schildern der Komponist und seine Co­-Librettisten in einer großangelegten Szene, in der die Nase gejagt und beinahe (oder tatsächlich?) von der hysterischen Meute gelyncht wird. Woher, so fragt man sich als Zeuge dieser sich zum Tumult steigernden Szene unweigerlich, rührt diese plötzlich aufflammende Aggression? Denn tatsächlich hat ja ein Großteil des wütenden Mobs keinerlei Beziehung zu der Nase oder ihrem Träger! Ist es Furcht vor dem Unbekannten (eine unabhängige, autonom existierende Nase!)? Auflehnung gegen die Obrigkeit (die Nase besitzt paradoxerweise einen höheren Rang)? Konfrontation mit der eigenen Minderwertigkeit (kleine Nase, lange Nase, Knollennase)? Oder Unterdrückung sexueller Triebe (»noscitur ex naso«)? Wer hier nach einer zusammenhängenden Logik sucht, mag enttäuscht werden. Gogols Geschichte ist ebenso wie auch Schostakowitschs Oper reinster »Nonsens«, jedoch nicht im Sinne einer vollständigen Abwesenheit von Sinn: Die Nase besitzt ihre ganz eigene Logik, die Un­-Logik von Traumwelten. Nicht von ungefähr ist in diesem Zusammenhang immer wieder darauf verwiesen worden, dass das russische нос (Nase) die Inversion von сон (Traum) ist.

»Ich wollte keine Witze über die Nase machen«, wird der Komponist nicht müde zu betonen. »Im Ernst, was ist lustig an einem Menschen, der seine Nase verloren hat? Er kann nicht heiraten, er kann kein öffentliches Amt bekleiden. Die Nase ist eine Horrorgeschichte, kein Witz … Und die Meute in Die Nase ist auch nicht lustig. Einzeln betrachtet sind die Leute nicht schlecht, aber leicht exzentrisch. Zusammen jedoch werden sie zum blutrünstigen Mob. Und die Figur der Nase selbst ist überhaupt nicht komisch. Ohne eine Nase ist man kein menschliches Wesen.«
Beflügelt durch neue Errungenschaften in der Rhinoplastik wurde das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert der literarischen Nasologie: von E. T. A. Hoffmann (in dessen gesamtem Werk Nasen eine wichtige Rolle spielen) und Wilhelm Hauffs Zwerg Nase bis zu Carlo Collodis Pinocchio und Edmond Rostands Cyrano de Bergerac. Mittendrin, und doch mit den anderen literarischen Nasenergüssen kaum zu vergleichen, steht Nikolai Gogols Die Nase von 1836 – ein außergewöhnliches Beispiel des Surrealismus, lange bevor dieser Begriff erfunden wurde. Gogols Kurzgeschichte vereint alle möglichen mit dem Riechorgan verbundenen Konnotationen: die Nase als Zeichen des Charakters, die Nase als Makel, der ihren Träger zum Außenseiter macht, die Nase als Auszeichnung, die Nase als sexuelles Symbol. »Eine Nase sagt mehr aus, als den meisten Besitzern dieses Anhängsels gemeinhin bewusst ist.«
März 2026
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