Händels Testament

Nicht allein das »Hallelujah« macht Messiah zu Händels erfolgreichstem Werk. Vielmehr ist es der romantische Geist, mit dem über universelle Werte und menschliche Ideale erzählt wird, der das Oratorium zu einem Meisterwerk macht. Das ist der Grund, warum Händels größtes Erfolgsstück auch sein musikalisches Testament ist, sagt der musikalische Leiter und MESSIAS-Dirigent George Petrou. Im Interview spricht er über den spirituellen Geist der Inszenierung MESSIAS, den Chor als eigentlichen Protagonisten und die triumphierende Brillanz von Dur-Tonarten.
Die Komische Oper Berlin ist bekanntermaßen »alles außergewöhnlich«. Das gilt für diese MESSIAS-Produktion gleich in mehrfacher Hinsicht – was ursprünglich ohne Handlung und Szene gedacht wurde, wird in einem Flughafen-Hangar theatral auf die Bühne gebracht! Musikalisch gesehen müssen wir aber über einen anderen Elefanten im Raum sprechen: Die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin werden imposant aufgestockt von einem Projektchor aus hunderten Berliner Sänger:innen. Ist das nicht eine heikle Angelegenheit?

George Petrou: Eine großartige Idee und ein Paradebeispiel für gemeinsames Musizieren von Profis und Amateur:innen! Leider musste ich schon oft feststellen, dass sich professionelle Chöre gegen so eine Zusammenarbeit sträuben, weil sie denken, dass ihre Arbeit dadurch entwertet würde. Hier am Haus ist das anders – alle brennen gemeinsam für die Sache. Es ist sehr bewegend zu sehen, mit wie viel Herzblut die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin mit den Amateur:innen zusammenarbeiten, sie anleiten und ihnen hilfreich zur Seite stehen. Dieses Projekt passt perfekt zum spirituellen Geist des Messiah. Denn im Stück geht es um Liebe, um Frieden, um Opferbereitschaft, um Hoffnung und um Erlösung. Es ist kein exklusiv christliches Stück, das macht den Messiah so großartig.

MESSIAS


Oratorium in drei Akten [ 1742 ]
Libretto von Charles Jennens nach Bibeltexten


In Zusammenarbeit mit:
Berliner Konzert Chor, Vokalensemble Sakura, Kantorei Karlshorst der ev. Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde Lichtenberg, Konzertchor Friedenau, Apollo-Chor der Staatsoper Unter den Linden, Unität-Chor, Händelchor Berlin, ORSO - Orchestra and Choral Society Berlin und Sänger:innen aus der Berliner Chorszene.

In Kooperation mit Chorverband Berlin.
Wo liegen für Dich als Dirigent die Herausforderungen bei so einer ungewöhnlichen Produktion?

George Petrou: Eine große Herausforderung stellt zunächst einmal die bloße Anzahl der Beteiligten dar, denn je mehr Leute auf der Bühne agieren, desto schwieriger ist es, sie musikalisch zu koordinieren. Zugleich eröffnet aber auch die riesige Bühne als solche eine Herausforderung. Bei einer Mahler-Sinfonie oder auch einer Messiah-Aufführung im 19. Jahrhundert kam es natürlich durchaus vor, dass hunderte oder sogar tausende von Sänger:innen mitwirkten. Allerdings fanden diese Konzerte in einer klassischen Choraufstellung statt. Unser Chor muss jedoch auf der Bühne spielen, da Damiano Michieletto ein richtiges Theaterstück konzipiert hat. Der Chor ist neben den Solist:innen fraglos der Protagonist in dieser Inszenierung, wie überhaupt bei allen Händel-Oratorien. Händels kompositorische Handhabung unterscheidet sich allerdings, je nachdem, ob er eine Oper oder ein Oratorium komponierte. In Händels Opern sind die Chöre eher einfacher konzipiert und auch leichter auswendig zu lernen. Die Chöre im Messiah sind jedoch sehr schwierig, weisen einen anspruchsvollen Kontrapunkt auf. Es ist demnach nicht leicht, sich diese Musik zu merken. Umso beeindruckter bin ich von der Art und Weise, wie die beiden Chöre in den Proben sofort zusammengefunden haben, wie gut die Atmosphäre war, wie engagiert und motiviert sich alle zeigten.
Menschengruppe auf Bühne die Protestschilder gegen Sterbehilfe in die Luft halten
Den Beteiligten hilft hierbei sicher auch, dass dieses Stück zu den populärsten klassischen Werken überhaupt zählt. Hast Du eine Erklärung dafür, warum gerade der Messiah eine solche Berühmtheit erlangt hat?

George Petrou: Ich denke, es liegt in erster Linie an der universalen Qualität des Stücks. Das Libretto ist sehr interessant und handelt eigentlich nicht ausschließlich von Jesus, sondern vielmehr von menschlich-archetypischen Idealen, die von jeder Kultur und jeder Religion verstanden werden. Das erklärt, warum das Werk als eines der größten Meisterwerke gefeiert wurde und wird. Natürlich spielt bei der Popularitätsfrage auch immer der »Hallelujah«-Chor eine entscheidende Rolle und, dass viele Menschen den Messiah gerne singen und hören, insbesondere in der Weihnachtszeit. Für mich ist der Messiah aber weit mehr als nur das »Hallelujah«. Es ist wie eine Art Testament von Händel. Das Werk eröffnet eine spirituelle, religiöse Kraft, die weit über das Christen- tum hinausgeht.

Im Grunde ist im Messiah ja jede Nummer ein Hit. Gibt es dennoch für Dich einen bestimmten Lieblingsmoment, der besonders heraussticht?

George Petrou: Ich habe eine Menge Lieblingsmomente. Was mich aber vor allem beeindruckt, ist die Weihnachts-Episode. Wenn ich das höre, sehe ich den Glitzer, ich sehe die Dekoration an Heiligabend, ich sehe ein Weihnachtsfest im 18. Jahrhundert. Die Musik ist hier so wohltuend, so verheißungsvoll und freudig. Es ist wirklich umwerfend, wie Händel es schafft, dieses Weihnachtsgefühl einzufangen. Die andere Stelle, die ich sehr bewundere, ist die wunder- schöne Alt-Arie »He was despised« im zweiten Teil. Diese Arie ist für mich nicht nur eine der besten Nummern von Händel, sondern eines der innigsten und emotionalsten Stücke, das die Vokalmusik hervorgebracht hat.
Mehrere Menschen sitzen auf Boden, um sie herum kleine Grasflächen im Hintergrund läuft eine Frau mit rotem Band in der Hand
… und ein weiterer Beleg dafür, dass die Musik des Messiah zeitlos bleibt?

George Petrou: Der Messiah ist kein Barockstück. Er ist kein romantisches Stück. Er ist universell. Es geht um Werte, die vor Händel da waren, die nach Händel da sind und die auf ewig überleben. Dieses Werk erreicht jeden Menschen, ob musikalisch gebildet oder nicht, ob man es zum ersten oder zum hundertsten Mal hört.

Der Librettist Charles Jennens hat interessanterweise kein gutes Haar an der Komposition gelassen. Seinem Freund Edward Holdsworth schrieb er beispielsweise, dass die Sinfonia unwürdig einer Händel-Komposition sei. Geht es nur mir so oder kannst du diese Kritik auch nicht nachvollziehen?

George Petrou: Für mich ist dieser Anfang kosmisch. Händel hat hier den gesamten Weltschmerz in Musik übertragen. Es hat für mich einen Effekt, als würde sich das Universum öffnen. Anekdoten wie diese sollte man letzten Endes aber ohnehin nicht überbewerten, auch wenn man beim Lesen natürlich trotzdem immer seinen Spaß daran hat.

Die musikalische Interpretation von Händels Musik ging in den letzten Jahrzehnten immer auch mit einer akribischen Erforschung der Stilistik der Zeit einher – Stichwort: historisch informierte Aufführungspraxis. Welchen Ansatz verfolgst du in dieser Produktion?

George Petrou: Angesichts des wundervollen Orchesters der Komischen Oper Berlin werden wir grundsätzlich auf modernen Instrumenten spielen. Unser Orchester hat mittlerweile jedoch eine solche Expertise in barocker Aufführungspraxis und kennt sich so gut mit dieser Musik aus, dass wir gar nicht so viel über Stil sprechen müssen, weil das meiste ohnehin vorhanden ist und von ganz allein kommt. Gerade das zeigt uns, dass wir mittlerweile in den Stil-Diskussionen und den Fragen, was historisch ist und was nicht, deutlich weiter sind als noch vor einigen Jahren.
Menschengruppe steht um Tisch herum, auf dem Tisch eine Frau hält mit gestrecktem Arm Lorbeerzweig nach oben
In Bezug auf Händels Musik ist viel über die Bedeutung von Tonarten geschrieben worden. Spielt es auch für deine Interpretation eine wichtige Rolle, dass D-Dur als Tonart des Triumphes angesehen wird, weshalb Trompeten und Pauken beispielsweise immer in D-Dur spielen?

George Petrou: Ich glaube, es ist tatsächlich eher andersherum: Weil Trompeten und Pauken damals rein technisch gesehen vor allem in D-Dur spielen konnten, hat sich bei uns diese Assoziation einer triumphalen Tonart herauskristallisiert. Deshalb wurde auch der Großteil der martialischen Militärmusik in D-Dur geschrieben. Es stimmt natürlich, dass Harmonien eine bestimmte Farbe und eine bestimmte Wirkung auf uns haben. Es steckt eine triumphierende Brillanz in D-Dur, C-Dur glänzt durch seine reine Strahlkraft. Wenn jetzt aber jemand kommt und sagt: »In D-Dur höre ich Traurigkeit«, dann kann man dieser Person wohl schlecht ausreden, dass D-Dur nach Traurigkeit klingt. Trotz gemeinsamer menschlicher Assoziationen und Codes ist das Hörerlebnis eben doch immer individuell.

Hinzu kommt auch, dass sich die Stimmung im Laufe der Zeit geändert hat. Je nachdem für wie viel Hertz man sich entscheidet, also ob man in »alter« oder »neuer« Stimmung spielt, erzielt man nochmal eine ganz andere Wirkung …

George Petrou: Ganz genau, was berücksichtigt werden muss, ist zum Beispiel, dass die moderne Stimmung bei Händel-Opern den Sänger:innen eine zusätzliche Anstrengung abverlangt und somit einen großen Einfluss auf die Interpretation hat. Man muss berücksichtigen, dass zum Beispiel Monteverdi für eine aus heutiger Sicht eigentlich höhere Tonlage geschrieben hat, oder im französischen Barock eigentlich für eine tiefere Tonlage komponiert wurde. Um auf Händel und die Bedeutung der Tonarten zurückzukommen: Ich denke, dass er sicherlich darüber nachgedacht hat. Wir sollten jedoch auch nicht vergessen, mit welcher Leichtigkeit er die Tonalitäten bei Bedarf ohne groß zu Zögern geändert hat, was zeigt, dass die Tonarten-Disposition für ihn letzten Endes doch nicht den größten Stellenwert hatte. Ein heutiges Werk- Verständnis war ihm fremd, er hat Tonarten einfach den jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Er war ein praktischer Mensch. Ich glaube so etwas kann auch uns dazu motivieren, dass man im Leben, und natürlich in der Musik, oft auch selbst den praktischen Weg gehen sollte. Man muss manche Situationen akzeptieren, das Beste daraus machen – dann erzielt man häufig die erfolgreichsten Ergebnisse.

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