Ein vergessener Konti­nent

Das »Heitere Musik­thea­ter« der DDR
Messeschlager Gisela gehört zu den bekanntesten Vertretern des »Heiteren Musiktheaters« der DDR. Dennoch verschwand das Stück irgendwann von den Bühnen – und wurde, wenn, dann nur sehr gestutzt aufgeführt. Zu deutlich waren die teils subversiven, teils direkten kritischen Wortspiele über realsozialistische Verhältnisse, zu augenzwinkernd die humorgeladene Gegenüberstellung ost- und westdeutscher Lebensverhältnisse. Nun hat die Komische Oper Berlin den Erfolgsschlager der besonderen Art DDR-Operette wieder auf die Bühne gebracht und lädt ein, die Geschichte eines 'sozialistischen' Musiktheaters neu zu betrachten. Ein Einblick zu dessen Hintergründen von Roland H. Dippel.

Operette und Musical als sozialis­tischer Kultur­auf­trag

»Heiteres Musiktheater« hieß es in der DDR, »Musikalisches Unterhaltungstheater« oft in der BRD. Diese Begriffe standen für Operette, Musical, Singspiel, Songspiel und Musikalisches Lustspiel. Über 200 Titel des »Heiteren Musiktheaters« wurden in der DDR bis 1989 uraufgeführt, von denen bereits zu DDR-Zeiten die Leuchtturmwerke Gerd Natschinskis sowie Guido Masanetz’ In Frisco ist der Teufel los fast allen anderen Neuschöpfungen den Rang abliefen. In den Sektoren der Westalliierten und in der späteren Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich neben Subventionsbühnen ein pulsierendes Biotop von freien Ensembles, Tourneen, En-suite-Produktionen und Long-Run-Theatern. In der DDR dagegen gab es nur Subventionstheater und Gastspiele, aber keine freien Musiktheater, die schnell auf Entwicklungen und damit praktische Veränderungen reagieren konnten. Somit ging es in der DDR oft darum, Werke in bestehenden Strukturen zu produzieren, seit 1960 zunehmend um die Eignung des Musicals für stabile Sparten und passgenaue Darsteller:innen. Ästhetische und politische Dogmen sollten dabei nicht verletzt werden: Bis zum Mauerfall dominierte offiziell die »Weltanschauung« des (dialektischen) Materialismus und die Kulturtheorie des Sozialistischen Realismus. Das Tun war trotzdem oft anders als die Behauptung. Das Aufspüren subversiver Zeichen im DDR-Theater wird mit größerem Zeitabstand aber immer schwieriger.

Zwischen politischem An­spruch und rea­lem Er­folg – das »heitere Musik­thea­ter« der DDR

Bereits während des Nationalsozialismus hatte man viele freie Operettenbühnen in das System subventionierter Bühnen integriert. In allen vier Besatzungszonen Deutschlands restaurierte man nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Theaterleben in Orientierung an den Strukturen vor 1945. Werke des »Heiteren DDR-Musiktheaters« durchliefen bis 1989 dann ähnliche Trends wie in der BRD – von Operetten-Neuversuchen bis zum Rockmusical. In der DDR gehörten die Pflege und Erschließung des »Erbes«, also älterer Werke, zum Kulturauftrag. Aber es bestand neben Erstaufführungen aus Russland, Ungarn, Polen und Italien auch Bedarf an neuen Stücken eigener Provenienz, weil die Tantiemen für begehrte Musical-Westimporte wie Hello, Dolly! und West Side Story extrem teuer waren – trotz Sonderkonditionen der westlichen Rechteinhaber:innen an die DDR. Mehrere DDR-Neuschöpfungen, die seit den ersten als DDR-spezifisch betrachteten Operetten Treffpunkt Herz (Metropol-Theater 1951) und Jedes Jahr im Mai (Metropol-Theater 1954) entstanden, schafften es auf über 12 Inszenierungen – zum Beispiel Gerhard Kneifels Bretter, die die Welt bedeuten (Metropol-Theater 1970) nach dem Schwank Raub der Sabinerinnen und Conny Odds Musical Karambolage (Gera 1969) nach dem DEFA-Spielfilm Geliebte weiße Maus. Zwischen politischem Anspruch und realem Erfolg, zwischen theoretischer und praktischer Lebenswirklichkeit hatten neue Operetten und Musicals eine geerdete »Unterhaltung der Werktätigen« und starke Verankerung im Alltag zum Ziel. Ein eigenes DDR-Schaffen mit Themen aus dem »sozialistischen Alltag«, welche Gerd Natschinski nach Messeschlager Gisela kategorisch ablehnte, sollte später den Großteil nur widerwillig gespielter Werke aus der Vergangenheit vor 1945 ersetzen. Wilfried Serauky, bis 1992 Operndirektor am Theater Zwickau, und Wolfgang Weit, der nach 1989 auch im Westen gefragte Oberspielleiter der Musikalischen Komödie Leipzig, waren zum Beispiel Experten, die konkrete Direktiven und Verbote für Programmentscheidungen bestritten. In Fachforen und bei der Spielplangestaltung brachte allerdings viel häufiger vorauseilende Selbstbeschränkung eine Erstarrung mit sich.

Facetten eines Genres – Historie des »Heiteren Musiktheaters«

Arthur Maria Rabenalt bemühte sich als Kurzzeit-Intendant des Berliner Metropol-Theaters in seiner Schrift Operette als Aufgabe (1948) um eine Erneuerung der Operette. Schon vor der Diskussion um ein sozialistisches Musical in Unabhängigkeit von westlichen Marktstrukturen gab es in der DDR Musicalartiges. Herbert Kawan nannte seine Sensation in London (Rostock 1957) eine Operette, trotz Modernismen à la Die Dreigroschenoper. Für Conny Odds Alarm in Pont l’Évêque (Erfurt 1958) verheißt der Untertitel einen »kriminellen Vorgang mit Musik«. Solche Innovationen markierten Abstand zu Werken aus dem Westen und der geschmähten Vergangenheit. Im Magazin »Der Spiegel« vom 19. Mai 1954 tändelte der westliche Berichterstatter über die Arglosigkeiten von Kawans Jedes Jahr im Mai, der »großen Sportoperette« zur großen Rad-Friedensfahrt, und ihre »temperamentlose Konfektionsmusik« hinweg. Das künstlerische Programm ihres Textdichters Peter Bejach blieb in der DDR bis 1989 gültig: »Schon lange wissen wir, dass wir die Anregungen zu neuen Werken der heiteren Muse nicht im Milieu der Fürsten, Millionäre und Maharadschas zu suchen haben, sondern auch in der Operette das Leben unserer Menschen von heute widerzuspiegeln haben: ihre Freuden und Probleme, ihre Erfolge und Schwächen, ihren Patriotismus und ihren lebensbejahenden Optimismus.« Die Frage nach dem richtigen Humor und seiner Wirkungsabsicht blieb in der theoretischen Diskussion noch lange wichtig.

Nur in Einzelfällen wurden ideologisch korrekte Alternativen zur »kapitalistischen Verblödungsindustrie« größere Erfolge. Aus dem »Gewissen der Epoche«, wie der DDR-Operettenspezialist Otto Schneidereit die Werke Offenbachs nannte, hatte sich ein oft angestrengtes Musikkomödien-Gebilde mit Angriffen auf die kleinbürgerliche Moral zur Verherrlichung der schönen neuen sozialistischen Welt entwickelt. Später beobachtete der DDR-Musikkritiker und Autor Hans-Gerald Otto im Rückblick auf die 50er Jahre eine »Diskrepanz zwischen stofflichem Anliegen und künstlerischer Nichtbewältigung«. Otto war es auch, der den Begriff »Heiteres Musiktheater« befürwortete und in der Theorie verbreitete.
Im Gedächtnis haften blieben In Frisco ist der Teufel los (Metropol- Theater 1962) von Guido Masanetz und Messeschlager Gisela, die beiden maßgeblichen Übergangsstücke mit Operetten-Relikten und Musical-Ambitionen. Wenn in der DDR die Gattung Musical als Gegensatz zur Operette betrachtet wurde, hatte das Gründe in der Kritik an der als minderwertig kategorisierten »spätbürgerlichen Operette« vor 1945 und den Produktionsbedingungen des Musicals als kommerzielles Theater in kapitalistischen Systemen. Aus theaterpraktischer Perspektive vollzog sich die Entwicklung von Operette und Musical in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter oftmals ähnlichen Produktions- und Aufführungsbedingungen weitgehend parallel. Der wilde kapitalistische Westen war in Operetten- und Musical-Sujets der DDR mitsamt seiner Vorhölle des Ausbeutersystems attraktiver als die Träume vom ewigen Urlaub mit schlechtem Brigade-Gewissen in Rudi Werions und Klaus Eidams Geld wie Heu (Metropol-Theater 1977). Oder auch die Ferien mit Max von Gerhard Siebholz und Goetz Jaeger (Metropol-Theater 1986) in einer beschaulichen Kleingartenanlage, wo einer der letzten und sehr matten Kämpfe um das sozialistische Gegenwartsmusical ausgetragen wurde.

Hans-Gerald Otto legte 1972 dar: »Gerade aber dieses heitere Musiktheater besitzt enorme Möglichkeiten, auf heitere Weise unter vielfältigem Einsatz von Musik in das Wesen unserer sozialistischen Gegenwart einzudringen, wesenhafte Züge dieser Wirklichkeit vergnüglich darzulegen, darzustellen«. Das galt auch für musikalische Lustspiele wie den Dauerbrenner Frohes Wochenend von Klaus Eidam und Klaus Winter (Halle 1976). Rockmusicals für Schauspieler:innen wie Rockballade (Leipzig 1983), Carmagnole (Leipzig 1986) und Nacht der Angst (Zwickau 1988) ähnelten Musicals der Jugendtheater im Westen. Die Stoff-Vielfalt reichte von Harry Sanders Musical Froufrou (Erfurt 1969) über die Offenbach-Primadonna Hortense Schneider und den Arbeiterinnenstreik in Rainer Lischkas und Therese Angeloffs Die Frauen von Montecano (Dresden 1976) bis zum »Sexstreik« athenischer Ehefrauen in Gerhard Kneifels und Jutta Eberhardt-Leisters Aphrodite und der sexische Krieg nach Aristophanes (Leipzig 1986). Prickelnd-Frivoles war beim DDR-Publikum generell beliebter als Lehrstücke zum sozialistischen Alltag.

Von Hit zu Hit im Dauerlauf – Erfolgsgarant Gerd Natschinski

»Das ›Heitere Musiktheater‹ war in der Stilistik der Musik auf den Stand vom Anfang des Jahrhunderts zurückgefallen. Das war nicht passiert, weil meine Komponistenkollegen nicht moderner komponieren konnten oder wollten, sondern weil sie das nicht sollten.« So begann der am 4. August 2015 verstorbene Gerd Natschinski in unveröffentlichten Erinnerungen die Darstellung seiner Erfolgslaufbahn als Bühnenkomponist. Zum Theater kam er neben einer glänzenden Karriere als Dirigent und Filmkomponist erst später und brachte bis zum Mauerfall zahlreiche Operetten, Musicals und Revuen auf die Bühnen.
Kein deutschsprachiger Komponist der Nachkriegszeit konnte mehr Musicalerfolge aufweisen: Komponisten im Westen wie Ralph Maria Siegel (Charley’s Tante), Lotar Olias (Prairie-Saloon), und Peter Kreuder mit Bel Ami konnten mit den Vorstellungszahlen Natschinskis nicht mithalten. Im Osten nahm es Gerd Natschinski mit spielerischer Leichtigkeit mit Herbert Kawan und Conny Odd auf. Als gleichwertiger Konkurrent behauptete sich neben ihm nur Guido Masanetz mit In Frisco ist der Teufel los. Beide – Masanetz und Natschinski – waren dem Berliner Metropol-Theater als Dirigenten und Berater verbunden. Beide suchten nach Alternativen zum Gegenwartsmusical. Als Teilnehmer des Ersten (gesamt-)Deutschen Musicalkongresses 1994 in Berlin stellte auch Natschinski fest: »Ich bin nicht genötigt worden, irgendwelches zeitgenössisches Polittheater zu machen. Meine Stoffe haben mehr in der Vergangenheit gespielt, haben sich aber selbstverständlich durchaus auf die Gegenwart bezogen.« Auch die Textdichter Helmut Bez und Jürgen Degenhardt, die Gerd Natschinski und die Entwicklung des DDR-Musicals von Servus Peter (Chemnitz 1961) bis Caballero (Leipzig 1988) begleiteten, klagten nicht über Schikanen: »Staatsauflagen haben wir, unser Team, nie erfüllt. Wir haben einfach die Stücke geschrieben, die wir schreiben wollten und die uns gefielen.« Die Titelmelodie aus Mein Freund Bunbury spielte als Evergreen in der Popularitätsliga von »Oh mein Papa« oder »Die Juliska aus Budapest«. Im Westen wurde sie zum Symbol für die gesamte DDR-Unterhaltungskultur.

Das Fernseh-Musical ABC der Liebe mit seiner darauffolgenden Bühnenbearbeitung Das Dekameronical war ein weiterer Coup Natschinskis auf der Höhe der Zeit. Zwei Gegenwartsfiguren – Sie (Eva-Maria Hagen) und Er (Gerd Grasse) – kommentieren sechs Folgen Boccaccio im sozialistischen Moralkatechismus. Weil sich Götz Friedrich, später langjähriger Intendant der Deutschen Oper Berlin, in den Westen absetzte, führte Carl Riha, Generalintendant aus Karl-Marx-Stadt, Regie und verpasste damit der später ganz anders aufgestellten Nina Hagen ein Episoden-Debüt als Novizin. Das Verstummen Natschinskis als Bühnenkomponist nach 1989 wirft Fragen auf. Mit 61 Jahren hatte er noch nicht das Alter zum Aufhören erreicht. Gewiss folgte der politischen Wende mit Evita & Co. und dem Nachholbedarf in Sachen West-Musical ein kultureller Wandel. In Dresden und Leipzig agierten Natschinski und seine Kolleg:innen in den neuen Freiräumen mit größerem Erfolgs- und Einnahmedruck. Trotz nachlassender Präsenz wurde Natschinski – das zeigte noch die Bühnenfassung des DEFA-Kultfilms Heißer Sommer (Rostock 2006) – ein zentraler Identifikationsmagnet der DDR-Kultur und Ostalgie.

Messeschlager Gisela – die missliebige »Noch-Operette«

Jo Schulz’ Textbuch zu Messeschlager Gisela war das Preisstück in einem Wettbewerb für neue Bühnentexte. Dem Uraufführungstriumph am 16. Oktober 1960 folgten 24 Bühnen, später verschwand Messeschlager Gisela von den Spielplänen. Ab dem Mauerbau 1961 war das Werk mit dem ständigen Perspektivwechsel west- und ostdeutscher Positionen für DDR-Bühnen völlig ungeeignet. Auch wenn in Messeschlager Gisela das Ost-Kollektiv durch Solidarität und Realitätsbewusstsein gegenüber den westlichen Modehyänen siegt, schien die Erwähnung einer Annäherung als gewagt.

Die als Meilenstein der Entwicklung gelobte Noch-Operette blieb durch die Einspielung beim DDR-Label AMIGA und Stückbeschreibungen in allen Auflagen von Otto Schneidereits Operettenführer in Erinnerung. Es entstand eine Fernsehproduktion mit Eva-Maria Hagen in der Rolle des »dekadenten Flittchens« Margueritta Kulicke. Deren Regisseur Erwin Leister berichtete 2016, dass der einzige Grund für den Stopp der Erfolgsserie von Messeschlager Gisela die humorvolle Gegenüberstellung des »freien« Westens und des sozialistischen Lebensstils war.

Die Figur Grete Kulicke ist eines jener Persönlichkeitsbilder, wie sie Parteisekretär Kurt Hager aus der gesellschaftlichen Realität der DDR weg-exorzieren wollte: kleinbürgerlich, opportunistisch, korrumpierbar! Folgende Passage aus dem Textbuch ist typisch. »Margueritta zwischen zwei Telefonen: ›Tschuldigung, Mäuschen, is ja nich sehr feierlich … – na ja doch … der ganze Betrieb auf meine schwache Schultern… in Paris is er… holt sich Anregungen … nee, nich wat DU denkst … bloß Mode … Also zuerst wart ihr in de Milchbar und dann im Kintopp … DRÜBEN! Die Babyjahre einer Kaiserin. Mit Romy auf dem Töppchen. Dufte.‹«

Hier werden Sehnsuchtspunkte der Figuren und eines großen Teils des Publikums deutlich. Und noch deutlicher erklärt sich das Verschwinden von Messeschlager Gisela aus folgendem Satz des Direktors Kuckuck: »Als ob ich’s geahnt hätte! Kaum ist man mal eine Woche in Paris – und schon werden hier Orgien gefeiert! ORGIEN! Typisch FDJ. Widersprechen Sie nicht!« Diese Gleichsetzung der FDJ mit einer Spaßzone wurde in den entscheidenden Gremien als »schwierig« betrachtet. Das westdeutsche Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« rekapitulierte am 16. November 1960 die DDR-interne Kritik an Messeschlager Gisela: »Da laut Programmheft ›nur solche Stoffe für die Operette benutzt werden (können), die sich heiter gestalten lassen, und nur Konflikte, die heiter zu lösen sind‹, findet auch der Miss-orientierte Couturier Kuckuck auf den rechten Weg zurück: Er muss zwar seine Stellung als Betriebsleiter aufgeben, wird jedoch zum Oberbuchhalter ernannt. Auch seine westlich verseuchte Chefsekretärin (›Ich mache stur nur uff Fijur‹) bekehrt sich zu sozialistischer Moral und heiratet den FDJ-Sekretär des Betriebs. Mit der ihr eigenen Einmütigkeit applaudierte die sowjetzonale Presse dem Messeschlager Gisela als einer Neuheit gegenüber der herkömmlichen Operette, die – wie der Dramaturg des Metropol-Theaters, Kurt Damies, deklarierte – ›ausschließlich den Interessen der Großbourgeoisie diente‹. Das ›Neue Deutschland‹ bemängelte, dass die positiven Figuren gegenüber den negativen etwas abfielen: ›Das ist keine nebensächliche Frage, sondern ein Kernproblem der sozialistischen Operettenkunst‹, war aber im Übrigen mit der Premiere zufrieden.
Die Verfilmung von Messeschlager Gisela durch Erwin Leister wurde erstmals am 27. Februar 1965 gesendet: »Die 800-Jahr-Feier der Leipziger Messe war den Adlershofern Anlass genug, eine Neuinszenierung der Operette vorzubereiten.«, kündigte das Magazin »Funk und Fernsehen der DDR« (Nr. 9/1965) an. Trotzdem ist es naheliegend, dass die direkte Gegenüberstellung der westdeutschen und ostdeutschen Modeszene Grund für das Verschwinden von Messeschlager Gisela war. Zwei Werke mit ähnlichen Handlungskonstellationen verschwanden ebenfalls sang- und klanglos: Mein schöner Benjamino von Guido Masanetz auf ein weiteres Textbuch von Jo Schulz, dessen Vertonung Natschinski abgelehnt hatte, gelangte im Metropol-Theater am 11. Mai 1963 zur Uraufführung. Die Abenteuer der Mona Lisa, uraufgeführt im Volkstheater Rostock am 26. März 1960, wurde in der DDR nie nachgespielt und gelangte dann in Ostrava (ČSSR) 1963 zur tschechischen Erstaufführung.

Bis zu Natschinskis Fernseh-Musical Das Dekameronical wurde nach dem Mauerbau in der DDR statt der Gegenüberstellung ost- und westdeutscher Realitäten die Spiegelung vergangener Zeiten an einer pulsierend freien DDR-Gegenwart das legitime, bewährte Muster.

In den Erinnerungen erwähnte Natschinski allerdings keine Gründe, warum Messeschlager Gisela nach dem Mauerfall in der DDR nicht mehr gegeben wurde und würdigte die Verfilmung Erwin Leisters. Auch in den Nachwendejahren hatte Natschinski keinen Glauben mehr an den Erfolg von Gegenwartsstücken der DDR. Der Regisseur Steffen Piontek berichtete, dass Natschinski am Staatstheater Cottbus Casanova zur Wiederaufführung empfohlen und Einwände gegen die Produktion von Messeschlager Gisela hatte, bis er sich vom Erfolg der Aufführungen und der geistreichen Handlung überzeugen konnte. Der entscheidende Anstoß zur Vergegenwärtigung von Messeschlager Gisela kam nach der Wende 1998 von der Neuköllner Oper in Berlin. Aus dem originalen 60er-Jahre-Sound machte Frank Schwemmer eine freche Kammerversion und den ersten Kiez-Hit der beginnenden Ostalgie-Welle: Mode und Intrigen im halbernsten Ost-West-Clinch.

Ungewollte schätze heben – Ausblick zum »Heiteren Musiktheater der DDR an der Komischen Oper Berlin

Die Komische Oper Berlin unter Walter Felsenstein, Joachim Herz und Harry Kupfer brachte keine Werke des spezifischen »Heiteren DDR-Musiktheaters« heraus. Seine Uraufführungen und Auftragsarbeiten entstanden mit intensiver Entwicklungsdramaturgie am Metropol-Theater im Admiralspalast, an der Staatsoperette Dresden und an anderen Häusern. Doch zwei von Felsenteins Inszenierungen – Ritter Blaubart und die DDR-Erstaufführung von Der Fiedler auf dem Dach (Anatevka) – wurden überall als exemplarische Interpretationen von Werken des »historischen Erbes« beziehungsweise des »progressiven Schaffens aus dem kapitalistischen Ausland« gelobt und übten somit starken Einfluss aus.

Außer Messeschlager Gisela, Mein Freund Bunbury, In Frisco ist der Teufel los, Bretter, die die Welt bedeuten, Servus Peter und Harry Sanders Prinz von Preußen schaffte es seit der Wiedervereinigung wahrscheinlich kein anderes Werk des Heiteren DDR-Musiktheaters auf die Bühne. Alle Inszenierungen – mit Ausnahme von Messeschlager Gisela an der Neuköllner Oper – entstanden für Theater der neuen Bundesländer und orientierten sich – mit Ausnahme der Inszenierung Frank Martin Widmaiers von Mein Freund Bunbury (Brandenburger Theater 2019) – zumeist an der Musical-Ästhetik der späten DDR. Doch inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen – mit neuen Fragen und Antworten zum künstlerischen Schaffen der verschwundenen Ost-Republik. Operette und Musical sind ebenso Dokumente dieser immer ferner rückenden Epoche wie Belletristik und bildende Kunst. Bei Neubegegnungen ergänzen sie unser Wissen über die Vergangenheit. Nun gilt es, wie bei der Operette vor 1933, zu überprüfen, ob die Vorurteile der Entstehungszeit und der letzten Jahrzehnte gegen diese Vielzahl unterschiedlichster Werke wirklich haltbar sind. Wenn die Komische Oper Berlin mit Messeschlager Gisela ihre Reihe von DDR-Werken des Heiteren Musiktheaters beginnt, so hat dies eine vergleichbare Pionier-Funktion wie zuvor die Auseinandersetzung des Hauses mit der Operette des frühen 20. Jahrhunderts. Mit unbefangenem Blick gibt es reiche musikalische Schätze zu heben!

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Ausgrabung mit Kult-Potenzial

Die Musik ist grandios. Da stimmt alles. Das Tempo und das Timing, die schlagertauglichen Nummern. Alles da und sogar auf Weltniveau, wie es in der DDR immer so schön illusorisch hieß. Und es wird auf dem üblichen Niveau des Hauses von Adam Benzwi von einer Formation des Orchesters der Komischen Oper für das Zelt zündend serviert. ... Gisa Flake gibt die Titelrolle nicht nur schauspielerisch überzeugend als Melange aus Original und Sympathieträgerin, sie singt auch noch fabelhaft. Maria-Danaé Bansen stellt sowohl ihre atemberaubende Berliner Schnauze als auch ihr Sexappeal der Sekretärin Kulicke zur Verfügung. Thorsten Merten ist wie geschaffen für diesen Kuckuck, Andreja Schneider ein Musterbeispiel für den dosierten Einsatz eines weiblichen Selbstbewusstseins, wie man es wohl gerne mehr gehabt hätte.
Roberto Becker, Die Deutsche Bühne
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Frederik Hanssen, Der Tagesspiegel
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