© Iko Freese / drama-berlin.de
»Wenn nachts die Sonne schiene, wäre es keine Nacht mehr«
Eine Oper, die zur Legende wurde – und eine Frau, deren Leben und Leiden die Welt bis heute bewegt: Giuseppe Verdis La traviata erzählt die tragische Geschichte der Violetta Valéry, inspiriert von der realen Marie Duplessis, der berühmtesten Kurtisane des 19. Jahrhunderts. Ihre Schönheit, ihr Charme und ihr tragisches Schicksal wurden durch Alexandre Dumas’ Die Kameliendame verewigt – und fanden ihren ultimativen Ausdruck in Verdis ergreifender Musik. Doch La traviata ist mehr als ein Drama über Liebe und Verlust. Es ist eine bittere Anklage gegen die Doppelmoral der Gesellschaft, eine Reflexion über den Preis von Freiheit und Leidenschaft – und eine Oper, die mit jedem neuen Jahrhundert ihre Aktualität behauptet. Von der skandalösen Uraufführung bis zu den gefeierten Inszenierungen mit Maria Callas oder Anna Netrebko: Jede Generation hat ihre eigene Violetta, ihr eigenes Ringen um die große, unerreichbare Liebe. Was macht La traviata so einzigartig? Warum berührt uns Violettas Schicksal bis heute? Und welche Utopie steckt in Verdis Musik? Tauchen Sie ein in eine Geschichte voller Leidenschaft, Verzweiflung und unsterblicher Melodien.
von Simon Berger
von Simon Berger
Geburt einer Legende
Im Teatro San Benedetto fand am 6. Mai 1854 die zweite Aufführungsserie von Giuseppe Verdis (1813–1901) Musikdrama La traviata statt, in einer neuen Inszenierung und mit einigen Änderungen. Der Komponist selbst war nicht zugegen, doch erhielt er später Kunde von seinem Verleger Ricordi:
»Heute kamen noch mehr, die von dem unbeschreiblichen Enthusiasmus sprechen, mit dem die »Traviata« am zweiten Abend, mehr noch wenn überhaupt möglich als beim ersten, aufgenommen wurde. Es ist ein beispielloser Erfolg. Sie waren ein Prophet, als Sie gesagt haben: »›Die Traviata‹ ist durchgefallen, wessen Schuld ist es? Meine oder die der Sänger? Ich weiß es nicht, die Zeit wird entscheiden.« Und die Zeit hat entschieden, und in derselben Stadt und mit denselben Zuschauern, die sie zuvor verdammt hatten, während sich jetzt alle rühmen, sie von Anfang an schon im vergangenen Jahr für eine überaus schöne Oper gehalten zu haben.«
Damit war dem Werk jener verdiente Durchbruch gelungen, den ihm die Öffentlichkeit im Jahr zuvor noch verweigert hatte – aber dazu später. In der Folge war La traviata ein Erfolg vergönnt, wie ihn kaum ein anderes Stück der Literatur je erleben durfte. Man darf sagen: Jedes Opernhaus der Welt hat das Stück in seiner Geschichte mindestens einmal auf den Spielplan gesetzt, und die Partien von Alfredo, Vater Germont und Violetta gehören zum Kernrepertoire der Sängerinnen und Sänger. Jede Generation brachte dereinst, und wird weiterhin »ihre« Traviata und »ihre« emblematische Violetta hervorbringen.
»Heute kamen noch mehr, die von dem unbeschreiblichen Enthusiasmus sprechen, mit dem die »Traviata« am zweiten Abend, mehr noch wenn überhaupt möglich als beim ersten, aufgenommen wurde. Es ist ein beispielloser Erfolg. Sie waren ein Prophet, als Sie gesagt haben: »›Die Traviata‹ ist durchgefallen, wessen Schuld ist es? Meine oder die der Sänger? Ich weiß es nicht, die Zeit wird entscheiden.« Und die Zeit hat entschieden, und in derselben Stadt und mit denselben Zuschauern, die sie zuvor verdammt hatten, während sich jetzt alle rühmen, sie von Anfang an schon im vergangenen Jahr für eine überaus schöne Oper gehalten zu haben.«
Damit war dem Werk jener verdiente Durchbruch gelungen, den ihm die Öffentlichkeit im Jahr zuvor noch verweigert hatte – aber dazu später. In der Folge war La traviata ein Erfolg vergönnt, wie ihn kaum ein anderes Stück der Literatur je erleben durfte. Man darf sagen: Jedes Opernhaus der Welt hat das Stück in seiner Geschichte mindestens einmal auf den Spielplan gesetzt, und die Partien von Alfredo, Vater Germont und Violetta gehören zum Kernrepertoire der Sängerinnen und Sänger. Jede Generation brachte dereinst, und wird weiterhin »ihre« Traviata und »ihre« emblematische Violetta hervorbringen.
La traviata
Melodramma in drei Akten [1853] von Giuseppe Verdi
Libretto von Francesco Maria Piave
Nach dem Drama La Dame aux camélias von Alexandre Dumas d. J. [1852]
Uraufführung am 6. März 1853 im Teatro La Fenice, Venedig
Diese Geschichte ist seit der ersten Generation nach der Uraufführung dokumentiert. Von der italienischen Sopranistin Gemma Bellincioni (1864–1950) stammt die wahrscheinlich erste Aufnahme, die je von der Partie der Violetta hergestellt wurde; Bellincioni singt die Arie »Ah, fors’è lui« vom Ende des ersten Aktes. Bemerkenswert ist ihre interpretatorische Freiheit in der Ausgestaltung des melodischen Verlaufs, und vor allem das für die heutigen Hörgewohnheiten auffallend langsame Tempo, in dem sie die Arie gestaltet. Diese Aufnahme – sie stammt aus dem Jahre 1903 – belegt eine Tradition des Operngesanges, bei dem die Sängerinnen und Sänger eine eher dominante Stellung gegenüber dem Dirigenten und vor allem den im Notentext festgehaltenen Anweisungen einnahmen.
Einspielungen der Traviata aus den 1920er und 30er Jahren belegen die Geschichte dieses Verfahrens. Verdis Werk ist derart häufig eingespielt, interpretiert und gedeutet worden, dass es geradezu seine eigene Mythologie mit sich zu führen scheint, zumindest hat es Kunsterlebnisse hervorgebracht, die ihrerseits »legendär« genannt werden müssen und an die hier mit einigen Namen erinnert sei: Anna Moffo, Renata Scotto, Maria Callas, Edita Gruberová, Anna Netrebko. Sowohl Die Kameliendame wie auch La traviata wurden mehrfach Gegenstand der Filmkunst, zu den bekanntesten Werken zählen die Verfilmung mit Greta Garbo von 1936 und Franco Zeffirellis Verfilmung mit Teresa Stratas und Plácido Domingo von 1982. Mit Luchino Visconti schuf wiederum ein Filmregisseur insgesamt drei ganz verschiedene Inszenierungen der Oper auf den Bühnen von Mailand, Spoleto und München … Giuseppe Verdis La traviata gebührt das Verdienst, eine der größten Ideen – von womöglich utopischer Qualität – aus einem höchst modernen Stoff, der seinerzeit durchaus als der Kunst unwürdig betrachtet wurde, entfaltet zu haben.
Einspielungen der Traviata aus den 1920er und 30er Jahren belegen die Geschichte dieses Verfahrens. Verdis Werk ist derart häufig eingespielt, interpretiert und gedeutet worden, dass es geradezu seine eigene Mythologie mit sich zu führen scheint, zumindest hat es Kunsterlebnisse hervorgebracht, die ihrerseits »legendär« genannt werden müssen und an die hier mit einigen Namen erinnert sei: Anna Moffo, Renata Scotto, Maria Callas, Edita Gruberová, Anna Netrebko. Sowohl Die Kameliendame wie auch La traviata wurden mehrfach Gegenstand der Filmkunst, zu den bekanntesten Werken zählen die Verfilmung mit Greta Garbo von 1936 und Franco Zeffirellis Verfilmung mit Teresa Stratas und Plácido Domingo von 1982. Mit Luchino Visconti schuf wiederum ein Filmregisseur insgesamt drei ganz verschiedene Inszenierungen der Oper auf den Bühnen von Mailand, Spoleto und München … Giuseppe Verdis La traviata gebührt das Verdienst, eine der größten Ideen – von womöglich utopischer Qualität – aus einem höchst modernen Stoff, der seinerzeit durchaus als der Kunst unwürdig betrachtet wurde, entfaltet zu haben.

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Tausend Erinnerungen an Marie
Meine liebe Marie,
ich bin nicht reich genug, um Sie zu lieben, wie ich es möchte, und nicht arm genug, um von Ihnen geliebt zu werden, wie Sie es wollten. Vergessen wir also alle beide – Sie einen Namen, der Ihnen bald gleichgültig sein dürfte, ich ein Glück, das mir unmöglich geworden ist. Es ist unnötig, Ihnen zu sagen, wie traurig ich bin, da Sie ja schon wissen, wie sehr ich Sie liebe. Nun also Adieu. Sie haben Herz genug, den Grund meines Briefes zu verstehen, und Geist genug, mir zu vergeben.
Tausend Erinnerungen A. D.
Mit diesen Zeilen verabschiedete sich der angehende Literat Alexandre Dumas der Jüngere (1824–1895) im August des Jahres 1845 von seiner gleichaltrigen Liebe Marie Duplessis. Die Liaison der beiden jungen Menschen währte gerade ein Jahr, ihre Wirkung allerdings reicht bis in unsere Tage. Marie Duplessis starb an einem Mittwoch, dem 3. Februar 1847, in ihrer Wohnung am Boulevard de la Madeleine Nr. 11; dort befindet sich heute eine Filiale der BNP Paribas, der größten Bank Frankreichs. Dieser Zufall ist insofern bemerkenswert, als die Geschichte von Marie Duplessis, von Alexandre Dumas und auch Giuseppe Verdis La traviata im Kern vom Gelderwerb als gewissermaßen höchstem »Auftrag« der modernen Gesellschaften handelt und – viel wichtiger noch – von jenen Dingen, die im Leben der Menschen käuflich oder eben unverkäuflich und unbezahlbar sind.
Die junge Frau kam als Rose Alphonsine Plessis im Jahr 1824 in einem klitzekleinen Dorf in der Normandie zur Welt, an »der untersten Stufe der schwierigen Leiter«, wie es der Journalist Jules Janin in einem Porträt der jungen Frau formulierte. Ihre Mutter verließ die Familie und starb früh. Alphonsine arbeitete in einer Wäscherei, einer Regenschirmfabrik und einem Gasthaus, der Vater misshandelte das Kind und zwang es sehr wahrscheinlich zur Prostitution. Im Jahre 1839 brachte er sie zu entfernten Verwandten nach Paris. Gleich Tausenden anderen Mädchen und Frauen arbeitete Alphonsine wieder in der Wäscherei und begann schließlich eine Lehre in einem Modegeschäft. Gleich Tausenden anderen Mädchen und Frauen prostituierte sie sich.
Nestor Roqueplan – er war Direktor des Théâtre des Variétés – berichtete, er habe eines Abends Alphonsine erstmals, in Lumpen gekleidet, auf der Pont Neuf getroffen. Hier kaufte er ihr an einem Stand Pommes frites, die sie gierig verschlang. Nur knapp ein Jahr darauf sei sie ihm in Begleitung eines jungen Aristokraten wiederbegegnet, in deutlich besserer Verfassung. Dieser Herr, so vermutete die Historikerin Joanna Richardson, war wohl Agénor Duc de Guiche-Gramont (1819–1880), gerade in seinen frühen Zwanzigern – er sollte mithilfe seines Freundes Napoleon III. Karriere machen und ward zuletzt Außenminister, bis zum katastrophalen Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Es heißt, der junge Adelige habe binnen dreier Monate zehntausend Franc für das Mädchen aufgebracht.
ich bin nicht reich genug, um Sie zu lieben, wie ich es möchte, und nicht arm genug, um von Ihnen geliebt zu werden, wie Sie es wollten. Vergessen wir also alle beide – Sie einen Namen, der Ihnen bald gleichgültig sein dürfte, ich ein Glück, das mir unmöglich geworden ist. Es ist unnötig, Ihnen zu sagen, wie traurig ich bin, da Sie ja schon wissen, wie sehr ich Sie liebe. Nun also Adieu. Sie haben Herz genug, den Grund meines Briefes zu verstehen, und Geist genug, mir zu vergeben.
Tausend Erinnerungen A. D.
Mit diesen Zeilen verabschiedete sich der angehende Literat Alexandre Dumas der Jüngere (1824–1895) im August des Jahres 1845 von seiner gleichaltrigen Liebe Marie Duplessis. Die Liaison der beiden jungen Menschen währte gerade ein Jahr, ihre Wirkung allerdings reicht bis in unsere Tage. Marie Duplessis starb an einem Mittwoch, dem 3. Februar 1847, in ihrer Wohnung am Boulevard de la Madeleine Nr. 11; dort befindet sich heute eine Filiale der BNP Paribas, der größten Bank Frankreichs. Dieser Zufall ist insofern bemerkenswert, als die Geschichte von Marie Duplessis, von Alexandre Dumas und auch Giuseppe Verdis La traviata im Kern vom Gelderwerb als gewissermaßen höchstem »Auftrag« der modernen Gesellschaften handelt und – viel wichtiger noch – von jenen Dingen, die im Leben der Menschen käuflich oder eben unverkäuflich und unbezahlbar sind.
Die junge Frau kam als Rose Alphonsine Plessis im Jahr 1824 in einem klitzekleinen Dorf in der Normandie zur Welt, an »der untersten Stufe der schwierigen Leiter«, wie es der Journalist Jules Janin in einem Porträt der jungen Frau formulierte. Ihre Mutter verließ die Familie und starb früh. Alphonsine arbeitete in einer Wäscherei, einer Regenschirmfabrik und einem Gasthaus, der Vater misshandelte das Kind und zwang es sehr wahrscheinlich zur Prostitution. Im Jahre 1839 brachte er sie zu entfernten Verwandten nach Paris. Gleich Tausenden anderen Mädchen und Frauen arbeitete Alphonsine wieder in der Wäscherei und begann schließlich eine Lehre in einem Modegeschäft. Gleich Tausenden anderen Mädchen und Frauen prostituierte sie sich.
Nestor Roqueplan – er war Direktor des Théâtre des Variétés – berichtete, er habe eines Abends Alphonsine erstmals, in Lumpen gekleidet, auf der Pont Neuf getroffen. Hier kaufte er ihr an einem Stand Pommes frites, die sie gierig verschlang. Nur knapp ein Jahr darauf sei sie ihm in Begleitung eines jungen Aristokraten wiederbegegnet, in deutlich besserer Verfassung. Dieser Herr, so vermutete die Historikerin Joanna Richardson, war wohl Agénor Duc de Guiche-Gramont (1819–1880), gerade in seinen frühen Zwanzigern – er sollte mithilfe seines Freundes Napoleon III. Karriere machen und ward zuletzt Außenminister, bis zum katastrophalen Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Es heißt, der junge Adelige habe binnen dreier Monate zehntausend Franc für das Mädchen aufgebracht.
Schönheit vom Lande
Zu jener Zeit änderte Alphonsine Plessis ihren Namen in Marie Duplessis. Sie wechselte erneut den Liebhaber, gebar diesem einen Sohn, dessen weiteres Schicksal unbekannt ist, und setzte ihren Aufstieg zur prominentesten Kurtisane der französischen Hauptstadt fort. Sie hatte Lesen und Schreiben erlernt, machte Konversation in Fremdsprachen, übte morgens nach dem Erwachen Klavier, empfing Besuch, promenierte anschließend in Cafés und Theater, ging hernach zum Dinner und vertrieb sich danach die Zeit tanzend und mit Glücksspielen. Marie Duplessis gelangte in jene Kreise der Gesellschaft, die man »die höchsten« nennt und zu welchen selbst die elegantesten ihrer Kolleginnen niemals je Zutritt erhielten. Sie wurde die exponierteste Vertreterin der »Demi-Monde«, der Halbwelt, wie sie Alexandre Dumas nannte. Nicht nur der Schriftsteller wollte die junge Frau von diesem Wege führen, um sie bei sich zu wissen. Der Komponist Franz Liszt (1811–1886) verbrachte mit ihr angeblich nicht nur die Klavierstunden. Und der weit über siebzig Jahre alte Gustav Ernst Baron von Stackelberg (1766–1850), er hatte Russland beim Wiener Kongress 1814/15 repräsentiert, wollte Marie, sozusagen anstelle seiner jung verstorbenen Tochter, ganz für sich, und erwarb ihr die Wohnung auf dem Boulevard de la Madeleine. Stackelberg beschwor sie, ihren ausschweifenden Lebenswandel zu verändern – was dem Mädchen für einige Wochen auch gelang; er zahlte ihr eine exorbitante Rente.

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Allen Berichten nach war Marie Duplessis von bezaubernder Schönheit. Judith Bernat (1827–1912), Aktrice am Théâtre des Variétés, beschrieb sie als »sehr schlank, aber graziös und sehr zart. Sie hatte ein ovales, engelhaftes Gesicht, schwarze, sanft melancholische Augen, strahlenden Teint und vor allem prachtvolles Haar.« Und Alexandre Dumas ergänzte: »Man hätte meinen können: eine Meißener Porzellanfigur.« Und er fügte hinzu:
Sie war eine der letzten und eine der wenigen Kurtisanen, die ein gutes Herz hatten. Sicherlich ist sie aus diesem Grund so jung gestorben. Es fehlte ihr weder an Geist noch an Uneigennützigkeit. Sie ist arm in einer prunkvollen Wohnung gestorben, die von ihren Gläubigern gepfändet worden war. Sie besaß eine angeborene Vornehmheit, kleidete sich mit Geschmack, hatte einen anmutigen, fast hoheitsvollen Gang. Manchmal hielt man sie für eine Frau von Welt. – Heute würde man sich in dieser Hinsicht dauernd täuschen. Sie war ein Bauernmädchen gewesen.
Solche Worte also fand Dumas zwanzig Jahre nach der Liebschaft mit Marie Duplessis für die Jugendliebe: ebenso sentimentale wie brutale. Ihren Namen – Kameliendame – erfand ihr Dumas; zwar trug Marie Duplessis häufig Blumenschmuck im Haar, wie es der Mode entsprach, aber das tägliche Tragen einer Kamelie geht auf den Schriftsteller zurück. Die Marguerite des Romans, so erfährt der Leser, habe an fünfundzwanzig Tagen des Monats weiße und an fünf Tagen rote Kamelien gleich Erkennungszeichen getragen …
Gefragt, wie sie zur Prostitution gekommen sei, antwortete die historische Marie Duplessis offen und einleuchtend:
Warum ich mich verkauft habe? Weil ehrliche Arbeit mir niemals den Luxus erlaubt hätte, nach dem ich mich doch so sehnte. Dabei bin ich weder verderbt noch neidisch. Ich wollte nur die Freude, die Genüsse und die Feinheiten einer eleganten und kultivierten Umgebung kennenlernen … ich habe meine Freunde immer selbst gewählt, doch hat niemand meine Liebe je erwidert. Das ist das eigentlich Grausige in meinem Leben.
Sie war eine der letzten und eine der wenigen Kurtisanen, die ein gutes Herz hatten. Sicherlich ist sie aus diesem Grund so jung gestorben. Es fehlte ihr weder an Geist noch an Uneigennützigkeit. Sie ist arm in einer prunkvollen Wohnung gestorben, die von ihren Gläubigern gepfändet worden war. Sie besaß eine angeborene Vornehmheit, kleidete sich mit Geschmack, hatte einen anmutigen, fast hoheitsvollen Gang. Manchmal hielt man sie für eine Frau von Welt. – Heute würde man sich in dieser Hinsicht dauernd täuschen. Sie war ein Bauernmädchen gewesen.
Solche Worte also fand Dumas zwanzig Jahre nach der Liebschaft mit Marie Duplessis für die Jugendliebe: ebenso sentimentale wie brutale. Ihren Namen – Kameliendame – erfand ihr Dumas; zwar trug Marie Duplessis häufig Blumenschmuck im Haar, wie es der Mode entsprach, aber das tägliche Tragen einer Kamelie geht auf den Schriftsteller zurück. Die Marguerite des Romans, so erfährt der Leser, habe an fünfundzwanzig Tagen des Monats weiße und an fünf Tagen rote Kamelien gleich Erkennungszeichen getragen …
Gefragt, wie sie zur Prostitution gekommen sei, antwortete die historische Marie Duplessis offen und einleuchtend:
Warum ich mich verkauft habe? Weil ehrliche Arbeit mir niemals den Luxus erlaubt hätte, nach dem ich mich doch so sehnte. Dabei bin ich weder verderbt noch neidisch. Ich wollte nur die Freude, die Genüsse und die Feinheiten einer eleganten und kultivierten Umgebung kennenlernen … ich habe meine Freunde immer selbst gewählt, doch hat niemand meine Liebe je erwidert. Das ist das eigentlich Grausige in meinem Leben.

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Ob Dumas, als er – ironischerweise vor allem Dank seines literarischen Denkmals auf Marie Duplessis’ Ableben – endlich zu Geld gekommen war, sie noch immer hätte für sich haben wollen, ist unbekannt. Interessant ist an seinen späteren Ausführungen über die Prostitution im Allgemeinen der moralisierende Gestus seiner Kritik. Im Vorwort zu einer späteren Auflage des Romans kulminiert dieser in einer Generalanklage gegen die sittliche Verderbnis seines Vaterlandes:
Wenn eine christliche, sogar katholische Nation eine Religion der Demut, der Barmherzigkeit, der Vergebung praktiziert oder vorgibt zu praktizieren, eine Religion, die die Frau vergöttlicht hat, indem sie eine Jungfrau zur Mutter Gottes macht, einer Magdalena die Absolution erteilt und der Ehebrecherin verzeiht, wenn ein Volk, das sich immer auf die Revolution von [17]89 beruft, das die Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit nicht nur für sich, sondern auch für die anderen will; wenn ein Volk, das in der Lage ist, sich das tapferste, das ritterlichste, das geistreichste Volk nennen zu lassen, wenn ein Volk scheinheilig, feige und dumm genug ist, um zu erlauben, dass Tausende von jungen, gesunden, schönen Mädchen, aus denen man intelligente Hilfskräfte, treue Gefährtinnen und fruchtbare Mütter machen könnte, nur dazu gut sind, erniedrigte, gefährliche, unfruchtbare Prostituierte abzugeben, dieses Volk verdient, dass die Prostitution es total verschlingt, und das wird ihm auch passieren.
Dumas kam über das Moralisieren nicht hinaus. Sein Anklage-Satz gehört in jene literarische Gattung der Entrüstung, die das von ihr adressierte Problem lediglich als eines der allgemeinen Moral und individuellen Tugendhaftigkeit adressiert. Es scheint ihm entgangen zu sein, dass sich in jenen Frauen die persönliche Autonomie mit der ökonomischen Notwendigkeit verband. Obwohl er doch seinen Roman just mit der Beschreibung eines Innenraumes begann, wie ihn auch Marie Duplessis am Boulevard de la Madeleine eingerichtet hatte, angefüllt mit erlesenen Gegenständen, für die sich ihre Liebhaber bisweilen total ruinierten.
Wenn eine christliche, sogar katholische Nation eine Religion der Demut, der Barmherzigkeit, der Vergebung praktiziert oder vorgibt zu praktizieren, eine Religion, die die Frau vergöttlicht hat, indem sie eine Jungfrau zur Mutter Gottes macht, einer Magdalena die Absolution erteilt und der Ehebrecherin verzeiht, wenn ein Volk, das sich immer auf die Revolution von [17]89 beruft, das die Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit nicht nur für sich, sondern auch für die anderen will; wenn ein Volk, das in der Lage ist, sich das tapferste, das ritterlichste, das geistreichste Volk nennen zu lassen, wenn ein Volk scheinheilig, feige und dumm genug ist, um zu erlauben, dass Tausende von jungen, gesunden, schönen Mädchen, aus denen man intelligente Hilfskräfte, treue Gefährtinnen und fruchtbare Mütter machen könnte, nur dazu gut sind, erniedrigte, gefährliche, unfruchtbare Prostituierte abzugeben, dieses Volk verdient, dass die Prostitution es total verschlingt, und das wird ihm auch passieren.
Dumas kam über das Moralisieren nicht hinaus. Sein Anklage-Satz gehört in jene literarische Gattung der Entrüstung, die das von ihr adressierte Problem lediglich als eines der allgemeinen Moral und individuellen Tugendhaftigkeit adressiert. Es scheint ihm entgangen zu sein, dass sich in jenen Frauen die persönliche Autonomie mit der ökonomischen Notwendigkeit verband. Obwohl er doch seinen Roman just mit der Beschreibung eines Innenraumes begann, wie ihn auch Marie Duplessis am Boulevard de la Madeleine eingerichtet hatte, angefüllt mit erlesenen Gegenständen, für die sich ihre Liebhaber bisweilen total ruinierten.

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Das »Prostitutionsproblem« jedenfalls dauerte in Frankreich während des Zweiten Kaiserreichs (1852–1870) und der Dritten Republik (1870–1940) fort, wobei die Belle Époque (1871–1900) von einigen Nostalgikern als das »Goldene Zeitalter des Bordells« angesehen wird. Um die Dimension des sozialen Problems zu erfassen, sei hier lediglich der Hinweis gegeben, dass jene Zeit der Verliebtheit Dumas’ noch vor den großen sozialen Auseinandersetzungen der Jahre 1848–1852 lag – die schließlich die Kinderjahre der Arbeiterbewegung und der modernen Sozialdemokratie wurden.
Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen
Eben jene Revolution von 1848 brachte die Konterrevolution nach Italien. Am 9. Februar des Jahres 1849 hatte der radikaldemokratische Revolutionär Giuseppe Mazzini die Römische Republik proklamiert. Das Risorgimento, die nationale Einigungsbewegung Italiens, errang damit seinen bislang größten Sieg. Papst Pius IX. floh aus dem Kirchenstaat (den er 1870 ganz verlieren würde). Ab April aber erfolgten die Angriffe französischer und spanischer Truppen, am 3. Juli 1849 ward die Republik von Rom niedergeschlagen, und die politische Herrschaft der römisch-katholischen Kirche restauriert. Zum Zwecke der Stabilisierung der inneren Ordnung Frankreichs »intervenierte« die Zweite Französische Republik – entgegen dem Text ihrer eigenen Verfassung – gegen Italien. Längst hatten in Paris reaktionäre Kräfte das Ruder an sich gerissen, und was wäre die französische absolute Macht ohne ihre katholische Staatsreligion?
Giuseppe Verdi setzte sich zeitlebens für die republikanische Einheit und Freiheit des italienischen Volkes ein, dem er bekanntlich 1842 mit dem Chor »Va, pensiero, sull’ali dorate« aus Nabucco so etwas wie die Hymne der Einigungsbewegung komponierte; und hernach mit Werken wie I Lombardi (1843), Ernani (1844), Attila (1846), Macbeth (1847), Luisa Miller (1849) und Rigoletto (1851) immer wieder Stücke vorlegte, die sich auch auf den Kampf zwischen neuer Bürgerwelt und Ancien Régime bezogen.
Giuseppe Verdi setzte sich zeitlebens für die republikanische Einheit und Freiheit des italienischen Volkes ein, dem er bekanntlich 1842 mit dem Chor »Va, pensiero, sull’ali dorate« aus Nabucco so etwas wie die Hymne der Einigungsbewegung komponierte; und hernach mit Werken wie I Lombardi (1843), Ernani (1844), Attila (1846), Macbeth (1847), Luisa Miller (1849) und Rigoletto (1851) immer wieder Stücke vorlegte, die sich auch auf den Kampf zwischen neuer Bürgerwelt und Ancien Régime bezogen.
Auf dem rechten Weg
Verdis Frau, Margherita Barezzi (*1814), war die Tochter eines Kaufmanns und gebar nach der Heirat mit dem Komponisten zwei Kinder, die unglücklicherweise beide nur ein Jahr nach ihrer Geburt verstarben. Margherita starb 1840 – Giuseppe Verdi geriet in eine tiefe Lebenskrise und hätte das Komponieren fast aufgegeben. Er tat es nicht. Aus der Depression führte ihn der Erfolg des Nabucodonosor (1842, später: Nabucco). Er lernte die Sängerin Giuseppina Strepponi (1815–1897) kennen und lebte mit ihr, die ein uneheliches Kind mitbrachte, über elf Jahre in »wilder Ehe« zusammen. In diesem Zusammenhang ist ein Briefwechsel mit Antonio Barezzi, dem Vater von Verdis verstorbener Gattin Margherita, sehr bekannt geworden. Barezzi war dem Komponisten ein väterlicher Freund und künstlerischer Förderer, auch nach dem Tod der Tochter. Er stand wohl auch unter dem Druck der kleinen Heimatgemeinde und missbilligte Verdis unorthodoxe Lebenssituation mit der Strepponi. Im bemerkenswerten Antwortschreiben des Komponisten finden sich die folgenden Zeilen:
Ich habe nichts zu verbergen. In meinem Hause lebt eine freie, unabhängige Dame, die wie ich die Einsamkeit liebt und ein Vermögen besitzt, das sie vor jeder Not schützt. Weder ich noch sie sind irgendwem über unser Tun Rechenschaft schuldig […] Und wenn es auch etwas Schlechtes wäre, wer hat das Recht, den Bannfluch gegen uns zu schleudern?Ich will sogar sagen, dass sie in meinem Hause den gleichen und noch größeren Respekt finden muss als ich […], und dass sie darauf jeden Anspruch hat, sowohl wegen ihrer Haltung als auch wegen ihrer Geistigkeit und ihres besonderen Entgegenkommens allen gegenüber …
Verdi setzte dieses Schreiben in Paris auf, wo er 1848 längere Zeit verweilte, und die Revolution vom Februar und die Donnerschläge vom Juni miterlebte. Im Theater wohnte er einer Aufführung von Dumas’ La Dame aux camélias bei. Obschon sein Brief, die private Lebenssituation und der Stoff der Traviata eine assoziative Nähe aufweisen, begründen die persönlichen Lebensumstände nicht das Interesse am Stoff. Für solch private Marotten war Verdi durch und durch Theatermacher. Aber man darf annehmen, dass ihm die zentrale Bedeutung dieses Moral-Liebeswahl-Freiheits-Konflikts vollkommen klar war. Wann genau er den konkreten Plan zur Bearbeitung von Dumas’ Stück als Oper fasste, ist nicht dokumentiert.
Ich habe nichts zu verbergen. In meinem Hause lebt eine freie, unabhängige Dame, die wie ich die Einsamkeit liebt und ein Vermögen besitzt, das sie vor jeder Not schützt. Weder ich noch sie sind irgendwem über unser Tun Rechenschaft schuldig […] Und wenn es auch etwas Schlechtes wäre, wer hat das Recht, den Bannfluch gegen uns zu schleudern?Ich will sogar sagen, dass sie in meinem Hause den gleichen und noch größeren Respekt finden muss als ich […], und dass sie darauf jeden Anspruch hat, sowohl wegen ihrer Haltung als auch wegen ihrer Geistigkeit und ihres besonderen Entgegenkommens allen gegenüber …
Verdi setzte dieses Schreiben in Paris auf, wo er 1848 längere Zeit verweilte, und die Revolution vom Februar und die Donnerschläge vom Juni miterlebte. Im Theater wohnte er einer Aufführung von Dumas’ La Dame aux camélias bei. Obschon sein Brief, die private Lebenssituation und der Stoff der Traviata eine assoziative Nähe aufweisen, begründen die persönlichen Lebensumstände nicht das Interesse am Stoff. Für solch private Marotten war Verdi durch und durch Theatermacher. Aber man darf annehmen, dass ihm die zentrale Bedeutung dieses Moral-Liebeswahl-Freiheits-Konflikts vollkommen klar war. Wann genau er den konkreten Plan zur Bearbeitung von Dumas’ Stück als Oper fasste, ist nicht dokumentiert.

© Iko Freese / drama-berlin.de
Vom Teatro La Fenice Anfang 1852 mit der Komposition einer neuen Oper beauftragt, erbaten sich Verdi und sein Librettist Francesco Maria Piave (1810–1876) so viel Zeit wie möglich und verschoben gar den Termin der Abgabe. Gut ein Jahr später war es endlich so weit, Verdi notierte am 1. Januar 1853: »In Venedig mache ich La Dame aux camélias, die vielleicht den Titel Traviata bekommt. Ein zeitgenössisches Thema. Ein anderer würde es vielleicht nicht gewagt haben, wegen der Kostüme, der Zeiten, wegen tausend anderer alberner Skrupel. Ich mache es mit ganzem Vergnügen.«
Die Zensur verordnete die »Verlegung« der Handlung ins Paris des Ancien Régime – das Publikum sollte sich nicht allzu sehr gemeint sehen. Der Roman und auch seine Theaterbearbeitung waren so populär, dass die Zensur Skandal witterte. So wurde dem Stück seine kritische Spitze gebrochen. Verdi protestierte, verhandelte, doch vergeblich – das Libretto der Uraufführung sah als Ort und Zeit der Handlung Paris um 1700 vor, höchsten Perückenbarock also. Unter dem neuen, moralisch korrekten Titel der »vom rechten Wege abgekommenen – la traviata« wurde der Protagonistin so der Rang eines »bedauerlichen Einzelfalls« zugesprochen.
Im Januar desselben Jahres 1853 arbeitete der Komponist noch an Il trovatore, der am 19. Januar in Rom uraufgeführt wurde. Zwischen diesem Datum und dem Termin der Uraufführung von La traviata war kaum Zeit für ruhiges Arbeiten – außer einigen Arien-Skizzen hatte Verdi noch nichts geschrieben. Es blieben: knapp sechs Wochen. In höchster Eile verfertige Verdi die Partitur. Sänger und Orchestermusiker hatten keine Gelegenheit zum intensiven Studium.
Die Zensur verordnete die »Verlegung« der Handlung ins Paris des Ancien Régime – das Publikum sollte sich nicht allzu sehr gemeint sehen. Der Roman und auch seine Theaterbearbeitung waren so populär, dass die Zensur Skandal witterte. So wurde dem Stück seine kritische Spitze gebrochen. Verdi protestierte, verhandelte, doch vergeblich – das Libretto der Uraufführung sah als Ort und Zeit der Handlung Paris um 1700 vor, höchsten Perückenbarock also. Unter dem neuen, moralisch korrekten Titel der »vom rechten Wege abgekommenen – la traviata« wurde der Protagonistin so der Rang eines »bedauerlichen Einzelfalls« zugesprochen.
Im Januar desselben Jahres 1853 arbeitete der Komponist noch an Il trovatore, der am 19. Januar in Rom uraufgeführt wurde. Zwischen diesem Datum und dem Termin der Uraufführung von La traviata war kaum Zeit für ruhiges Arbeiten – außer einigen Arien-Skizzen hatte Verdi noch nichts geschrieben. Es blieben: knapp sechs Wochen. In höchster Eile verfertige Verdi die Partitur. Sänger und Orchestermusiker hatten keine Gelegenheit zum intensiven Studium.
Zwischen Tradition und Moderne
Gegen die Ansicht des Komponisten bestand die Theaterleitung auf den von ihr ausgewählten Sängern und so erklang am 6. März 1853 im Teatro La Fenice erstmals dieses Werk. Der missgelaunte Verdi redete die Wirkung des Abends klein und sprach von einem Misserfolg: Die Zeit wird’s zeigen«, schrieb Verdi am Folgetag an seinen Schüler Emanuele Muzio und berichtete ebenso dem Verleger Giulio Ricordi. Doch die Reaktion der Kritik wusste zu differenzieren. Die Zeitschrift Italia musicale schrieb:
»La traviata« ist die beste oder wenigstens die fortschrittlichste der modernen Opern. Denn es scheint uns, wenn wir diese Oper sehen, als würden wir in Dumas’ Schauspiel sitzen, umso mehr als es nicht einmal wie Musik erscheint. Von nun an wird man in eine Verdi-Oper gehen, als würde man ins Schauspielhaus gehen. Verdi ist der Erfinder einer vollkommen neuen Musik; er hat ihre Mittel vervielfacht und will, dass sie nicht nur die Gedanken und Gefühle im Allgemeinen ausdrückt, sondern auch alle ihre Wandlungen.
In der Tat arbeitete der Komponist zunehmend daran, größere »Wirklichkeitsnähe« des Bühnengeschehens herzustellen und die Folge musikalischer Nummern mit dem Fortgang der Handlung organisch zu verbinden. Das Grundschema der italienischen Oper hatte sich seit Anfang des Jahrhunderts kaum verändert. Die Konvention bestand in der Abwechslung von Massenbildern mit intimen, privaten Szenen der Arien und Duette. Dieses Prinzip ist in La traviata auf den Punkt gebracht. Hier korrespondiert die theaterpraktische Anforderung – Abwechslungsreichtum durch Kontrast zu schaffen – mit ihrem Inhalt. Das Leben der Kurtisane betrifft gleichermaßen die öffentliche und die private Person, beide Aspekte der Figur bedingen einander. Der zentrale Konflikt des Stückes ist ebenso auf dieser Grenze angesiedelt. Verdi tat recht daran, sich dieses Materials zu bemächtigen. Der Künstler sah sich als Kritiker und Unruhestifter mit den Mitteln seiner Kunst. Seine Ansprüche an ein Libretto formulierte er auch in jenem bereits zitierten Brief vom 1. Januar 1853: »Ich wünsche nichts sehnlicher, als ein gutes Libretto zu finden, und das heißt: einen guten Dichter. Das brauchen wir dringend. Es ist unmöglich oder fast unmöglich, dass einer errät, was ich wünsche. Ich wünsche neue, grandiose, schöne, abwechslungsreiche, gewagte – und zwar gewagt bis hart an die Grenze, mit neuartigen Formen etc. etc. – und zugleich vertonbare Stoffe … «
»La traviata« ist die beste oder wenigstens die fortschrittlichste der modernen Opern. Denn es scheint uns, wenn wir diese Oper sehen, als würden wir in Dumas’ Schauspiel sitzen, umso mehr als es nicht einmal wie Musik erscheint. Von nun an wird man in eine Verdi-Oper gehen, als würde man ins Schauspielhaus gehen. Verdi ist der Erfinder einer vollkommen neuen Musik; er hat ihre Mittel vervielfacht und will, dass sie nicht nur die Gedanken und Gefühle im Allgemeinen ausdrückt, sondern auch alle ihre Wandlungen.
In der Tat arbeitete der Komponist zunehmend daran, größere »Wirklichkeitsnähe« des Bühnengeschehens herzustellen und die Folge musikalischer Nummern mit dem Fortgang der Handlung organisch zu verbinden. Das Grundschema der italienischen Oper hatte sich seit Anfang des Jahrhunderts kaum verändert. Die Konvention bestand in der Abwechslung von Massenbildern mit intimen, privaten Szenen der Arien und Duette. Dieses Prinzip ist in La traviata auf den Punkt gebracht. Hier korrespondiert die theaterpraktische Anforderung – Abwechslungsreichtum durch Kontrast zu schaffen – mit ihrem Inhalt. Das Leben der Kurtisane betrifft gleichermaßen die öffentliche und die private Person, beide Aspekte der Figur bedingen einander. Der zentrale Konflikt des Stückes ist ebenso auf dieser Grenze angesiedelt. Verdi tat recht daran, sich dieses Materials zu bemächtigen. Der Künstler sah sich als Kritiker und Unruhestifter mit den Mitteln seiner Kunst. Seine Ansprüche an ein Libretto formulierte er auch in jenem bereits zitierten Brief vom 1. Januar 1853: »Ich wünsche nichts sehnlicher, als ein gutes Libretto zu finden, und das heißt: einen guten Dichter. Das brauchen wir dringend. Es ist unmöglich oder fast unmöglich, dass einer errät, was ich wünsche. Ich wünsche neue, grandiose, schöne, abwechslungsreiche, gewagte – und zwar gewagt bis hart an die Grenze, mit neuartigen Formen etc. etc. – und zugleich vertonbare Stoffe … «
Herzstück der Utopie
Das Kernstück des Werkes dauert achtzehn Takte, gefolgt von einem Orchesternachspiel und ist keine große Arie, sondern der Schlussvers eines Rezitativs. Nach einem langen, qualvollen Gespräch mit Alfredos Vater hat sich Violetta gegen ihr Fühlen und Wollen dazu durchgerungen, Alfredo zu verlassen. Der ist nun aufgetaucht und ahnt nichts vom Bevorstehenden. Violetta ist überrascht und bricht in Tränen aus. Sie fasst sich, erklärt Alfredo, dass sie nun bei seinem Vater um beider Verbindung bitten würde und lässt ihn dann zurück. In raschem Tempo versichert sie Alfredo ihre Liebe, sie wiederholt die Worte »presso a te sempre, sempre, sempre presso a te« (»dir immer nah, immer, immer dir nah«) und fügt die bittende Aufforderung an: »Liebe mich, Alfredo, so sehr, wie ich dich liebe … Lebe wohl« (Amami, Alfredo, quant’io t’amo … Addio). Ihr »Amami« beginnt eine Terz erhöht gegenüber der vorangegangenen Phrase und wird wiederholt. Wiederum um eine Terz erhöht, bäumt es sich zunächst noch einen Halbtonschritt auf und schrittweise tritt über den tremolierenden Streichern das ganze Orchester hinzu. Mit Violettas Intensivierung des Bittens und Beschwörens setzen zunächst das Fortissimo der Blech- und schließlich die Holzbläser ein. In der Melodie werden die Vokale als doppelt punktierte Halbe verlängert, jede folgende Silbe als Achtel einen Schritt abwärts angefügt, gefolgt vom nächsten Schritt herab, so senkt sich ihre Phrase in Seufzerfiguren: Violetta schluchzt.

Im Klavierauszug der Oper umfasst diese Zentralsequenz des Dramas knapp zwei Seiten. Verdi verzichtete darauf, der Protagonistin eine Arie zu schreiben, und erfand ihr stattdessen einen Emotionsausbruch, der in seiner Einprägsamkeit, seiner Kürze und seiner einfachen Konstruktion kaum erschütternder wirken könnte.
Der Opernkomponist tritt hier als reiner Musikdramatiker auf. Die Erzählung von Violettas Konflikt, seine schauspielerische Darstellung, gelangt an einen Punkt, an dem ihre Innenwelt nicht zugleich körperlich in der räumlichen Außenwelt gespielt werden kann – der Vorgang ist ein emotionaler, ein psychologischer – den man nur singen kann. Die ergreifende Wirkung dieser Szene beruht auf dem gesamten vorangehenden Akt. Sie resultiert aus der Entscheidung Violettas, nach dem Gespräch mit dem alten Germont, und auf dem mit dem Publikum gemeinsam geteilten Wissen: Nun wird sie gehen, auch wenn ihre Gefühlswelt gegen diese Entscheidung rebelliert. Ihre innere Not wird ebenso hörbar wie die Bitte an Alfredo, sie zu lieben – in der schon der Vorausgriff aufkommende Katastrophen steckt, die sie ahnt und doch nicht vermeiden kann. Umso mehr betont sie, in Steigerung und Wiederholung, ihre Liebe und weiß doch zugleich, dass sie den Geliebten gerade in falscher Sicherheit wiegt – das verschärft ihr inneres Drama. Es ist möglich, zugleich eine Lüge zu formulieren und aufrichtig die Wahrheit zu sagen, bis zu diesem Punkt hat der Komponist das Drama Violettas an dieser Stelle geführt.
Der Opernkomponist tritt hier als reiner Musikdramatiker auf. Die Erzählung von Violettas Konflikt, seine schauspielerische Darstellung, gelangt an einen Punkt, an dem ihre Innenwelt nicht zugleich körperlich in der räumlichen Außenwelt gespielt werden kann – der Vorgang ist ein emotionaler, ein psychologischer – den man nur singen kann. Die ergreifende Wirkung dieser Szene beruht auf dem gesamten vorangehenden Akt. Sie resultiert aus der Entscheidung Violettas, nach dem Gespräch mit dem alten Germont, und auf dem mit dem Publikum gemeinsam geteilten Wissen: Nun wird sie gehen, auch wenn ihre Gefühlswelt gegen diese Entscheidung rebelliert. Ihre innere Not wird ebenso hörbar wie die Bitte an Alfredo, sie zu lieben – in der schon der Vorausgriff aufkommende Katastrophen steckt, die sie ahnt und doch nicht vermeiden kann. Umso mehr betont sie, in Steigerung und Wiederholung, ihre Liebe und weiß doch zugleich, dass sie den Geliebten gerade in falscher Sicherheit wiegt – das verschärft ihr inneres Drama. Es ist möglich, zugleich eine Lüge zu formulieren und aufrichtig die Wahrheit zu sagen, bis zu diesem Punkt hat der Komponist das Drama Violettas an dieser Stelle geführt.
Von der Prostituierten …
Für die Theaterfassung musste Dumas eine Reihe wichtiger Änderungen seines Romans vornehmen. In diesem wird die Erinnerung an Marguerite Gautier (so der Name der Kameliendame) von ihrem einstmaligen Liebhaber – Armand Duval – dem Ich-Erzähler vorgetragen. Den Clou dieser verschachtelten Erzähl- und Handlungssituation bildet am Schluss der Einblick Armands in die Rolle seines Vaters. Diese nachgelagerte Auflösung der Beziehungsentwicklung hat Dumas in seiner Theaterbearbeitung zugunsten chronologischer Handlung aufgegeben. Ebenso wurde die wehmütige Erinnerung Armands an die Verstorbene zugunsten der Fokussierung auf die zentrale Frauengestalt weggelassen – nunmehr tritt Marguerite, bei Verdi: Violetta, als aktiv handelnde, autonome Figur auf und ist nicht bloß Thema der Erzählung.
Die Zensur trotzte Dumas eine Reihe von Zugeständnissen ab, er »entschärfte« den gesellschaftskritischen Zug des Werkes, etwa durch Hinzufügung eines folkloristischen Trinkliedes. Mit seinem Libretto hielt sich Verdis Librettist Piave eng an Dumas’ Schauspielbearbeitung. Gegenüber der Vorlage musste die Textmasse selbstverständlich auf wesentliche Gedanken und charakteristische Formulierungen begrenzt werden. Jedoch hat Piave einige Abschnitte direkt, fast wortgleich, übernommen, so etwa den Schluss, wenn Violetta den Umstehenden – Annina, Alfredo, dem Vater und dem Doktor – mit »È strano«, über der Liebesmelodie, ein plötzliches Neuerwachen ihrer Kräfte verkündet, bevor sie »auf das Sofa zurück« fällt und verstirbt.
Die Zensur trotzte Dumas eine Reihe von Zugeständnissen ab, er »entschärfte« den gesellschaftskritischen Zug des Werkes, etwa durch Hinzufügung eines folkloristischen Trinkliedes. Mit seinem Libretto hielt sich Verdis Librettist Piave eng an Dumas’ Schauspielbearbeitung. Gegenüber der Vorlage musste die Textmasse selbstverständlich auf wesentliche Gedanken und charakteristische Formulierungen begrenzt werden. Jedoch hat Piave einige Abschnitte direkt, fast wortgleich, übernommen, so etwa den Schluss, wenn Violetta den Umstehenden – Annina, Alfredo, dem Vater und dem Doktor – mit »È strano«, über der Liebesmelodie, ein plötzliches Neuerwachen ihrer Kräfte verkündet, bevor sie »auf das Sofa zurück« fällt und verstirbt.

© Iko Freese / drama-berlin.de
Auf Bitten Verdis allerdings erfand Piave eine Szene gänzlich neu, nämlich Alfredos wütenden Eifersuchts-Skandal inmitten des Festes bei Flora. Der gekränkte Liebhaber taucht unerwartet auf und wirft Violetta seinen Geldbeutel vor die Füße. Vor den Augen der Gesellschaft verkündet er, sie nun für ihre Dienste bezahlen zu wollen. Hinzu kommt Vater Germont, den Sohn tadelnd, und mitleidend mit der verletzten Violetta. Die Besucher des Festes kommentieren das Geschehen und die Szene entwickelt sich – darin ganz in der Tradition der italienischen Oper – zum großen Gesellschaftstableau des zweiten Finales mit homophonem Chorsatz.
Dieser dramaturgische Kniff bringt einen Umbruch in der Figuren-Charakterisierung mit sich. Die Figur des Alfredo wird in ihre logische Konsequenz getrieben – der gekränkte Liebende handelt aus der Not als aktiver Aggressor. Ihm gegenüber steht jene Gesellschaft, die sich nun empört zeigt, über die taktlose Erniedrigung Violettas durch Alfredo. Violetta ihrerseits steht verlassen im Mittelpunkt der Szene und kann sich weder gegen den ungerechtfertigten Vorwurf Alfredos noch gegen das scheinheilige Mitleid der umstehenden Gäste zur Wehr setzen. Bis zu ihrem Erscheinen beim Fest amüsierten sich Floras Gäste noch beim kleinkarierten Small Talk, der Sensationslüsternheit und »Mikroaggression« nur notdürftig als »Konversation in Gesellschaft« maskiert. Inmitten der allgemeinen Heuchelei ist Violetta das verlassene Opfer jener normativen Logik, die man bis heute »Doppelmoral« zu nennen pflegt.
Dieser dramaturgische Kniff bringt einen Umbruch in der Figuren-Charakterisierung mit sich. Die Figur des Alfredo wird in ihre logische Konsequenz getrieben – der gekränkte Liebende handelt aus der Not als aktiver Aggressor. Ihm gegenüber steht jene Gesellschaft, die sich nun empört zeigt, über die taktlose Erniedrigung Violettas durch Alfredo. Violetta ihrerseits steht verlassen im Mittelpunkt der Szene und kann sich weder gegen den ungerechtfertigten Vorwurf Alfredos noch gegen das scheinheilige Mitleid der umstehenden Gäste zur Wehr setzen. Bis zu ihrem Erscheinen beim Fest amüsierten sich Floras Gäste noch beim kleinkarierten Small Talk, der Sensationslüsternheit und »Mikroaggression« nur notdürftig als »Konversation in Gesellschaft« maskiert. Inmitten der allgemeinen Heuchelei ist Violetta das verlassene Opfer jener normativen Logik, die man bis heute »Doppelmoral« zu nennen pflegt.
… zur liebenden Hure
Für Violetta aber ergreift der Komponist Partei. Schuf Alexandre Dumas mit seinem Roman ein beachtliches Stück Trivialliteratur; so formte Verdi, nach einem Wort Marcel Prousts, daraus mit seiner Musik ein Kunstwerk. Und in der Tat brachten der Komponist und sein Textdichter Piave den Stoff in eine musikalisch-dramatische Form, mit der zugleich die Gattung auf die Höhe ihrer Zeit geführt wurde. Verdi war sich der Anrüchigkeit des Kurtisanen-Themas durchaus bewusst. Die allgemeinen Vorbehalte brachte der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick (1825–1904) in einem denkwürdigen Verriss zum Ausdruck – im Kern warf er dem Werk zeitgeistorientierte, sensationslüsterne, effekthascherische Modernität vor:
In der »Traviata« ist es rein darauf abgesehen, einen noch unausgebeuteten pathologischen Reiz, eine Lungensüchtige, auf die Bühne zu bringen. Alle Arten gewaltsamen Sterbens durch Schießwaffen, Schneidewerkzeuge, Gift u. dgl. waren bereits durch die Opernkomponisten aufgebraucht, selbst der Wahnsinn hatte den romantischen Reiz schon verloren, welchen eine verschrobene und bildungslose Sentimentalität dieser bedauernswürdigen Krankheit umzuhängen liebt. […] Es musste das rein körperliche Leiden in seiner Nacktheit zum Mittelpunkt des musikalischen Dramas gemacht werden. […] Einen Fortschritt gegen die früheren Opern Verdis hat die »Traviata« nur in der mäßigen Instrumentierung aufzuweisen. […] Die Musik ist von einer Langweiligkeit, die nachgerade zum Attentat wird.
Später revidierte Hanslick seine Äußerung und nannte sie eine »Jugendsünde«. Dennoch wirft seine Kritik ein interessantes Licht auf jene Zeit. Der eigentliche Skandal bestand selbstverständlich nicht im vermeintlichen Reiz der Darstellung der seinerzeit unheilbaren Krankheit (das war sie auch noch bis lang nach der Uraufführung von Puccinis La Bohème 1896), die »in ihrer Nacktheit« zum Thema gemacht würde. Man darf spekulieren, ob Hanslicks Kritik genädiger ausgefallen wäre, wenn sich Verdi eines »standesgemäßeren« Konflikts angenommen hätte. Denn mit Violetta steht nicht einfach nur die »personifizierte Krankheit« auf der Bühne – im Gegenteil. Verdi selbst brachte das Problem auf den Punkt: »Eine Hure muss immer eine Hure bleiben! Wenn nachts die Sonne schiene, wäre es keine Nacht mehr. Also: Sie verstehen überhaupt nichts.« Diese Zeilen schrieb er einem Impresario, der das Werk in Rom ebenfalls in einer geglätteten, zensierten Fassung aufs Theater bringen wollte. Verdi lehnte ab: »Vielen Dank! Auf diese Weise haben Sie alle Positionen, alle Figuren kaputt gemacht!«
In der »Traviata« ist es rein darauf abgesehen, einen noch unausgebeuteten pathologischen Reiz, eine Lungensüchtige, auf die Bühne zu bringen. Alle Arten gewaltsamen Sterbens durch Schießwaffen, Schneidewerkzeuge, Gift u. dgl. waren bereits durch die Opernkomponisten aufgebraucht, selbst der Wahnsinn hatte den romantischen Reiz schon verloren, welchen eine verschrobene und bildungslose Sentimentalität dieser bedauernswürdigen Krankheit umzuhängen liebt. […] Es musste das rein körperliche Leiden in seiner Nacktheit zum Mittelpunkt des musikalischen Dramas gemacht werden. […] Einen Fortschritt gegen die früheren Opern Verdis hat die »Traviata« nur in der mäßigen Instrumentierung aufzuweisen. […] Die Musik ist von einer Langweiligkeit, die nachgerade zum Attentat wird.
Später revidierte Hanslick seine Äußerung und nannte sie eine »Jugendsünde«. Dennoch wirft seine Kritik ein interessantes Licht auf jene Zeit. Der eigentliche Skandal bestand selbstverständlich nicht im vermeintlichen Reiz der Darstellung der seinerzeit unheilbaren Krankheit (das war sie auch noch bis lang nach der Uraufführung von Puccinis La Bohème 1896), die »in ihrer Nacktheit« zum Thema gemacht würde. Man darf spekulieren, ob Hanslicks Kritik genädiger ausgefallen wäre, wenn sich Verdi eines »standesgemäßeren« Konflikts angenommen hätte. Denn mit Violetta steht nicht einfach nur die »personifizierte Krankheit« auf der Bühne – im Gegenteil. Verdi selbst brachte das Problem auf den Punkt: »Eine Hure muss immer eine Hure bleiben! Wenn nachts die Sonne schiene, wäre es keine Nacht mehr. Also: Sie verstehen überhaupt nichts.« Diese Zeilen schrieb er einem Impresario, der das Werk in Rom ebenfalls in einer geglätteten, zensierten Fassung aufs Theater bringen wollte. Verdi lehnte ab: »Vielen Dank! Auf diese Weise haben Sie alle Positionen, alle Figuren kaputt gemacht!«

© Iko Freese / drama-berlin.de
Der außergewöhnliche Zug seines Werks liegt im grundsätzlichen Humanismus, mit dem sich der Komponist dem Stoff näherte. Wo Alexandre Dumas sich als erfolgreicher Literat zwanzig Jahre nach den Ereignissen von seiner einstigen Liebe distanzierte und zu Schimpftiraden auf die bigotte Moral der katholischen Bürger Frankreichs anhob, formulierte Verdi mit Violetta das notwendige Scheitern eines legitimen Glücksanspruchs angesichts der gesellschaftlichen Bedingungen – in Gestalt der humanen Utopie der Liebe, die man mit dem Prädikat »romantisch« lediglich betriebsmäßig abqualifiziert.
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14. März 2025
Verdi verurteilt seine Figuren nicht
Verdi erzählt vom Schicksal seiner Figuren mit unbestechlich klarem Blick auf ihre Absichten und emotionalen Konflikte. Violetta, Alfredo, Germont – sie alle sind Gefangene ihrer Zeit, ihrer Moral, ihrer Gefühle. Der Walzer, Sinnbild der rauschhaften Gesellschaft, zieht sich durch La traviata wie ein bittersüßer Puls: Er ist Tanz, Verführung, soziale Maske – und zugleich akustische Metapher der Tragödie Violettas. Verdi macht aus dem privaten Drama ein gesellschaftliches Beben, aus persönlicher Liebe eine universelle Erzählung. Ein Gespräch mit Dirigent Ainārs Rubiķis über Verdi, Violetta und die Ambivalenz des Walzers.
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Interview
13. März 2025
Violetta will leben
In Nicola Raabs La traviata ist Violetta keine Kurtisane des 19. Jahrhunderts mehr. Als moderne Sexarbeiterin wandelt sie selbstbewusst im digitalen Raum. Ihr Leben ist ein endloser Strom aus Beobachtung, Konsum und virtueller Nähe, die doch nichts als Einsamkeit hinterlässt. Als sie erfährt, dass sie sterben wird, beginnt eine fieberhafte Flucht – nicht vor dem Tod, sondern vor der Leere. Zwischen Realität und Fantasie sucht sie nach einem Ausweg, nach Liebe, nach Selbstbestimmung. Nicola Raab holt Verdis La traviata radikal in die Gegenwart und deutet die Geschichte über Moral als ein um Identität, Kontrolle und die Illusion von Freiheit. Ein Gespräch über Mythologie, Fantasie und Autonomie einer ganz gegenwärtigen Violetta.
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Interview