Violetta will leben!

In Nicola Raabs La traviata ist Violetta keine Kurtisane des 19. Jahrhunderts mehr. Als moderne Sexarbeiterin wandelt sie selbstbewusst im digitalen Raum. Ihr Leben ist ein endloser Strom aus Beobachtung, Konsum und virtueller Nähe, die doch nichts als Einsamkeit hinterlässt. Als sie erfährt, dass sie sterben wird, beginnt eine fieberhafte Flucht – nicht vor dem Tod, sondern vor der Leere. Zwischen Realität und Fantasie sucht sie nach einem Ausweg, nach Liebe, nach Selbstbestimmung. Nicola Raab holt Verdis La traviata radikal in die Gegenwart und deutet die Geschichte über Moral als ein um Identität, Kontrolle und die Illusion von Freiheit. Ein Gespräch über Mytho­logie, Fan­tasie und Auto­nomie einer ganz gegenwärtigen Violetta.
Giuseppe Verdis Melodramma La traviata ist eines der bekanntesten Werke der Opernliteratur …

Nicola Raab: Es ist seine meistgespielte Oper überhaupt ja. Dieser Umstand hat das Team vor Beginn der Inszenierungsarbeit sehr beschäftigt. Fast jeder kennt dieses Werk, diesen Stoff, das Fluidum, das mit ihm assoziiert ist. Aus dieser Tatsache haben wir zwei Hypothesen für die Interpretation hergeleitet. Die eine gilt dem Mythos La traviata, der im Lauf der Zeit um den gesamten Werkkomplex und seine Geschichte entstanden ist. Die zweite betrifft dann den sehr persönlichen Zugang zu dieser Oper.

Worin besteht dieser Mythos?

Nicola Raab: Er berührt die emotionale Dimension des Opernbesuchs und hat in diesem Sinne sehr viel mit dem Erleben des Publikums zu tun. Vielleicht kann man das den »Publikumssinn« nennen. Man hört: Heute wird La traviata gespielt – und schlagartig löst das ein Flirren der Sinne aus. Als würde man sich an etwas erinnern, das noch ganz unkonkret ist, aber latent schon immer vorhanden war und nun wieder aus der Ferne, wie Echos oder Melodien, die jemand bei offenem Fenster am Klavier spielt, ins Bewusstsein dringt.

La traviata


Melodramma in drei Akten [1853] von Giuseppe Verdi
Libretto von Francesco Maria Piave
Nach dem Drama La Dame aux camélias von Alexandre Dumas d. J. [1852]
Uraufführung am 6. März 1853 im Teatro La Fenice, Venedig
Steht der Mythos im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte des Werks?

Nicola Raab: Darauf die Gegenfragen: Was genau ist die Rezeptionsgeschichte? Ist es die Geschichte der musikwissenschaftlichen Abhandlungen? Sind es die verschiedenen Kritiken, die über Aufführungen des Stücks in den vergangenen 150 Jahren geschrieben wurden? Als Regisseurin stehe ich in einem sehr direkten Verhältnis zum Publikum, das ja immer in seiner Gegenwart lebt. Selten aber wird unter »Rezeptionsgeschichte« dieser Aspekt gesehen: die Transformation der Publikumserfahrung. Und um diese geht es mir.

Der Publikumssinn gleicht der Erfahrung eines Déjà-vu?

Nicola Raab: Was ich »Mythos« nenne, betrifft uns alle als Zuschauerinnen und Zuschauer in unseren Erwartungen, die wir an das Werk herantragen, und der Wirkung, die von ihm ausgeht. Der Mythos La traviata bildet sich dann aus Erinnerungen, aus Fantasien und gedanklichen Assoziationen, die immer um die großen Fragen des menschlichen Lebens kreisen: das Gelingen und Scheitern der Liebe, die Frage nach dem eigenen Ich. Dies sind zugleich auch die Themen und Fragen des Stückes, die wir hinsichtlich ihrer Aktualität untersuchen.
Im Vordergrund eine Frau und ein Mann aneinandergeschmiegt liegend auf einer Bühne, im Hintergrund drei weitere Darsteller:innen vor Ziegelsteinwand
Was hat sich verändert gegenüber der Zeit der Uraufführung?

Nicola Raab: In der Zeit um 1850 war die herrschende Moral eine andere. Violetta hatte als eine Kurtisane nicht das Recht und die Möglichkeit zu einer glücklichen Liebesbeziehung und zu dem, was gemeinhin unter »normalem Leben« verstanden wurde. Diese Tatsache, die ausweglose Lage Violettas, wird zum Gegenstand dieser Oper. Es stellt sich nun die inhaltliche Frage, ob sich an dieser Lage wirklich etwas geändert hat – der moralische Konflikt des 19. Jahrhunderts ist in unseren Augen vor allem ein sozialer in der Gegenwart. Neben dem Problem der Stigmatisierung der Prostitution heute stellt sich die Frage nach der Lebenswelt, die mit den technischen Medien und der veränderten Gesellschaftsstruktur zusammenhängt, und schließlich ist das übergreifende Thema die Sterblichkeit.
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Wie sehen Sie Violetta heute?

Nicola Raab: Violetta ist in der Inszenierung eine Frau, die als eine Sexarbeiterin von heute ihren Lebensunterhalt verdient: »She is a sexworker!« – diese Formel hat die Konzeptionsphase sehr geprägt. Aber Violetta arbeitet im digitalen Raum – man kann sie beobachten, wie sie vor der Kamera posiert; so findet die Gesellschaft als eine Gemeinschaft von Konsumenten statt. Violetta ist ein Produkt, das viral multipliziert wird. In strikter räumlicher Trennung existieren die Männer, die dieses Produkt konsumieren und bei denen etwas passiert, das dann natürlich mehr ins Haptische, Fleischliche geht. Doch geschieht dies nicht als reale Interaktion. Als Sexobjekt im Internet ist Violetta zu einer schier unermesslichen Einsamkeit verdammt.

Das ist eine andere Situation, als jene der Kurtisanen des 19. Jahrhunderts ...

Nicola Raab: Der Zugang ist ein sehr persönlicher – ich gehe von einer Frau aus, der man sagt: Du wirst bald sterben. Violetta bekommt die Diagnose einer tödlichen Krankheit am Anfang des Abends und diese Nachricht wird zur Konfrontation mit der Kürze des eigenen Lebens. Von einer Sekunde zur nächsten verschieben sich die Kriterien, unter denen sie ihr Leben beschreibt, und Violetta erkennt die unglaubliche Einsamkeit, unter der sie leidet.
Frau läuft durch einen Türrahmen einer Papierwand, am vorderen Bühnenrand ein Tisch mit Computer, daneben ein Paar High Heels
Sie ist traumatisiert?

Nicola Raab: In gewisser Weise ja. Es ist ein schreckliches Ereignis, wenn man eine solche Nachricht bekommt. Man stelle sich vor: Ein Arztbesuch und in Nullkommanichts ändert sich alles! Und diesen Augenblick in Violettas Leben erleben wir mit – das ist der Beginn einer inneren Reise. Sie hat ja, aufgrund ihrer Arbeit, ohnehin mit Fantasien und Wunschbildern zu tun, und jene Welt des 19. Jahrhunderts – die Welt Alexandre Dumas’ und Verdis – gehört zu ihren Fantasien, und nun steht diese unter dem düsteren Stern des nahenden Endes. Dieses Motiv der Kürze des Daseins wird inspiriert vom schnellen Lebenswandel der historischen, realen »Traviata« Alphonsine Plessis und es durchzieht auch den Stoff in all seinen Gestaltungen, von Alexandre Dumas’ Roman über das Theaterstück Die Kameliendame bis zu Verdis La traviata. Die Frauenfigur weiß um ihren baldigen Tod, und lebt unter dieser Spannung ein atemloses Leben. Die Maxime des Rock’n’ Roll – »Live fast, die young!« – erhält eine tragische Zutat: »Live fast, ’cause you will die young!«

Violetta ist auf der Flucht?

Nicola Raab: Man könnte von einer Fluchtfantasie sprechen; aber das scheint mir nur ein Aspekt der Sache zu sein. Violetta will leben! Und so flüchtet sie aus der Einsamkeit in eine Fantasiewelt, eine imaginäre Welt. Diese ist bestückt mit Figuren, die sie in eine eigene Geschichte verwickeln, gleich einem Traum – und nun sieht sie sich mit jenen Emotionen konfrontiert, die sie bisher nie erleben konnte. Die Figuren entwickeln eine Eigendynamik, sie gerät mitten hinein in die Wirren der großen Gefühle, und ist diesen nun vollkommen ausgeliefert: Für den Träumenden ist die Realität des Traumes eine ganze Wirklichkeit. Die Figuren sind Wunschbilder, fantastische Imaginationen, aber diese besitzen eine eigene Dynamik.

Als Zuschauer folge ich zwei Welten zugleich?

Nicola Raab: Ja. Wobei die Erzählebenen sich verschränken: Die Dimension der Vergangenheit und der Gegenwart, der Wachzustand und die Traumwelt, stehen in einem assoziativen Verhältnis zueinander. Sie ähneln sich und durchkreuzen einander bisweilen. Ich möchte gern offen lassen, ob das, was zu sehen ist, ein Vorgang zwischen Figuren ist oder Ausdruck innerweltlicher Zustände und Wahrnehmungen der Hauptfigur. Das Theater verfügt hier über ein reiches Potenzial an Spielmöglichkeiten. Denken wir etwa an den Film, da sind wir als Zuschauer mittlerweile mit derart differenzierten und verschachtelten Erzählmustern konfrontiert – und auch in der Lage, diese zu entschlüsseln –, wie sie im Theater kaum geboten werden. Mit der Inszenierung radikalisieren wir Violettas inneren Konflikt. Es wird nicht mehr die Auseinandersetzung zwischen allgemeiner Moral und persönlicher Liebe in der Form des Kammerspiels vor gesellschaftlichem Hintergrund zur Aufführung gebracht wird, sondern der verzweifelte Kampf einer bis dahin zum Sexobjekt degradierten und nun todkranken Frau gegen die Vereinsamung.
Die Welt hat sich gewandelt …

Nicola Raab: In der Tat. Es soll nicht entschieden werden, ob nun die Moralvorstellungen heute immer noch eine solche Wirkung haben, das hängt sehr von der gesellschaftlichen Umgebung ab, in der man sich heutzutage bewegt. Einerseits haben sich sehr liberale Auffassungen durchgesetzt, andererseits hegen wir dennoch Vorurteile gegenüber Prostituierten – eine sehr große Debatte kreist derzeit in der Gesellschaft um dieses Thema. Aber wir erweitern die Interpretation des La traviata-Konflikts und berücksichtigen auch die technischen Entwicklungen unserer Zeit. Diese stellen die Frage nach dem Zusammenhang von Imagination und Wirklichkeit in ganz neuer Weise. Violetta – in ihrer Todesangst und Einsamkeit – entflieht in die Wirklichkeit der Fantasiewelt, des Traumes, des Scheins, wo ihr aber stets die Unausweichlichkeit ihres Todes begegnet. Sowohl Alfredo als auch dessen Vater konfrontieren sie immer wieder mit dem Ende – ihr Tod wird Violetta erbarmungslos immer wieder aufs Neue vor Augen gestellt, das korrespondiert mit der Wiederholung bestimmter Abläufe und Figurenkonstellationen.

Gibt es da noch irgendeine Utopie?

Nicola Raab: Die Figur hat ein »End-of-Live-Kit« bei sich. Das ist etwas, das in Deutschland nicht so breit debattiert wird wie in anderen Ländern. Damit soll klar sein: Violetta bleibt bis zum Ende eine selbstbewusste Frau, die die Entscheidung treffen kann, ihr Leben selbstbestimmt und autonom zu beenden. Und natürlich ist und bleibt die Liebe die große Kraft der Oper! So durchlebt Violetta die soziale Dimension der Geschehnisse zwischen ihr, Alfredo und Vater Germont zwar in Räumen der Illusion und Fantasie, aber darum nicht weniger zwingend und emotional berührend.
April 2026
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Sa
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Apr
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Wieder da!
Giuseppe Verdi
Schillertheater – Großer Saal
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