© Iko Freese / drama-berlin.de
Verdi verurteilt seine Figuren nicht
Verdi erzählt vom Schicksal seiner Figuren mit unbestechlich klarem Blick auf ihre Absichten und emotionalen Konflikte. Violetta, Alfredo, Germont – sie alle sind Gefangene ihrer Zeit, ihrer Moral, ihrer Gefühle. Der Walzer, Sinnbild der rauschhaften Gesellschaft, zieht sich durch La traviata wie ein bittersüßer Puls: Er ist Tanz, Verführung, soziale Maske – und zugleich akustische Metapher der Tragödie Violettas. Verdi macht aus dem privaten Drama ein gesellschaftliches Beben, aus persönlicher Liebe eine universelle Erzählung. Ein Gespräch mit Dirigent Ainārs Rubiķis über Verdi, Violetta und die Ambivalenz des Walzers.
Giuseppe Verdis La traviata ist eine der erfolgreichsten Opern der Theatergeschichte …
Ainārs Rubiķis: Es ist das letzte Werk der Erfolgsserie, die mit Rigoletto begann und dann von Il trovatore fortgeführt wurde. La traviata feierte sogar im selben Jahr wie Il trovatore seine Uraufführung, nämlich 1853. Wobei man von »feiern« eigentlich nicht sprechen kann, denn die Uraufführung rief eher Ablehnung hervor. Erst mit der zweiten Inszenierung nahm der Siegeszug dann seinen Lauf. Der angebliche Misserfolg bei der Uraufführung hatte wohl auch mit einer Sängerbesetzung zu tun, die Verdi unbefriedigend fand – lediglich die Sopranistin zeigte sich ihrer Aufgabe gewachsen. Es bedurfte wohl einer überzeugenden musikalischen Darbietung, um den berührenden Konflikt hervorzutreiben. Es ist die musikalische Gestaltung dieser menschlichen Tragik, die schließlich den Erfolg des Werkes brachte. Verdi konfrontierte die Gesellschaft mit einem Thema, mit dem er ins Schwarze traf. Der Skandal bestand nicht in der Wahl eines zeitgenössischen Sujets – obwohl das vergleichsweise ungewöhnlich war –, sondern in der Präsentation einer Kurtisane als Titelfigur. Das war für die herrschende katholische Moral in Frankreich und Italien zu viel des Guten. Menschlichkeit ja, aber doch bitte vor allem in den heraus- gehobenen Kreisen der »besseren Gesellschaft«.
Ainārs Rubiķis: Es ist das letzte Werk der Erfolgsserie, die mit Rigoletto begann und dann von Il trovatore fortgeführt wurde. La traviata feierte sogar im selben Jahr wie Il trovatore seine Uraufführung, nämlich 1853. Wobei man von »feiern« eigentlich nicht sprechen kann, denn die Uraufführung rief eher Ablehnung hervor. Erst mit der zweiten Inszenierung nahm der Siegeszug dann seinen Lauf. Der angebliche Misserfolg bei der Uraufführung hatte wohl auch mit einer Sängerbesetzung zu tun, die Verdi unbefriedigend fand – lediglich die Sopranistin zeigte sich ihrer Aufgabe gewachsen. Es bedurfte wohl einer überzeugenden musikalischen Darbietung, um den berührenden Konflikt hervorzutreiben. Es ist die musikalische Gestaltung dieser menschlichen Tragik, die schließlich den Erfolg des Werkes brachte. Verdi konfrontierte die Gesellschaft mit einem Thema, mit dem er ins Schwarze traf. Der Skandal bestand nicht in der Wahl eines zeitgenössischen Sujets – obwohl das vergleichsweise ungewöhnlich war –, sondern in der Präsentation einer Kurtisane als Titelfigur. Das war für die herrschende katholische Moral in Frankreich und Italien zu viel des Guten. Menschlichkeit ja, aber doch bitte vor allem in den heraus- gehobenen Kreisen der »besseren Gesellschaft«.
La traviata
Melodramma in drei Akten [1853] von Giuseppe Verdi
Libretto von Francesco Maria Piave
Nach dem Drama La Dame aux camélias von Alexandre Dumas d. J. [1852]
Uraufführung am 6. März 1853 im Teatro La Fenice, Venedig
Wie gelang ihm das?
Ainārs Rubiķis: Sehr verknappt könnte man sagen: Verdi verurteilt seine Figuren nicht – im Gegenteil. Er nimmt die Vorlage und gestaltet sie so, dass die Protagonisten Violetta, Germont und Alfredo mit ihren jeweiligen Absichten und ihren emotionalen Konflikten verständlich und glaubwürdig werden. So haben zuletzt, im Finale des dritten Aktes, die beiden Männer-Figuren gemeinsam mit der Bediensteten Annina sehr plausible Gründe, »Oh mio dolor!« (»Welch ein Schmerz!«) zu rufen. Verdi hat seine Lieblingskonstellation Tenor – Sopran – Bariton wirklich gekonnt durchgeführt und dabei jeder Figur Individualität verliehen. Alfredo wird populär und jugendlich frisch auf dem Fest im ersten Akt, mit unterlegtem Walzer-Rhythmus, eingeführt. Seine Arie zu Beginn des zweiten Teils ist mit Pizzicati angereichert, das unterstreicht sein inneres Feuer. Dieser Moment ist noch stark der Tradition des Belcanto verpflichtet. Sein Vater Germont hingegen ist ein wohlanständiger Mann, der vom Land in die Hauptstadt gekommen ist, wo er den Sohn vor dem Verderben retten will – auch aus Sorge um seine Tochter. In seiner bittenden Ansprache an Alfredo ist er musikalisch vergleichsweise schlicht gestaltet. Germonts »Di Provenza il mar« ist keine kunstvolle Bravour-Arie, der Mann ist eben ein ländlicher Typ. Der Sänger muss einen erheblichen Tonumfang bewältigen, aber der Form nach ist das ein zweistrophiges Lied, das sehr geschickt in die Partitur eingeflochten ist. Violetta schließlich sind die ausgreifenden Bögen, die Koloraturen und herabstürzenden Linien zugeordnet, die ihre Seelenlage, ihre Liebe und ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringen.
Ainārs Rubiķis: Sehr verknappt könnte man sagen: Verdi verurteilt seine Figuren nicht – im Gegenteil. Er nimmt die Vorlage und gestaltet sie so, dass die Protagonisten Violetta, Germont und Alfredo mit ihren jeweiligen Absichten und ihren emotionalen Konflikten verständlich und glaubwürdig werden. So haben zuletzt, im Finale des dritten Aktes, die beiden Männer-Figuren gemeinsam mit der Bediensteten Annina sehr plausible Gründe, »Oh mio dolor!« (»Welch ein Schmerz!«) zu rufen. Verdi hat seine Lieblingskonstellation Tenor – Sopran – Bariton wirklich gekonnt durchgeführt und dabei jeder Figur Individualität verliehen. Alfredo wird populär und jugendlich frisch auf dem Fest im ersten Akt, mit unterlegtem Walzer-Rhythmus, eingeführt. Seine Arie zu Beginn des zweiten Teils ist mit Pizzicati angereichert, das unterstreicht sein inneres Feuer. Dieser Moment ist noch stark der Tradition des Belcanto verpflichtet. Sein Vater Germont hingegen ist ein wohlanständiger Mann, der vom Land in die Hauptstadt gekommen ist, wo er den Sohn vor dem Verderben retten will – auch aus Sorge um seine Tochter. In seiner bittenden Ansprache an Alfredo ist er musikalisch vergleichsweise schlicht gestaltet. Germonts »Di Provenza il mar« ist keine kunstvolle Bravour-Arie, der Mann ist eben ein ländlicher Typ. Der Sänger muss einen erheblichen Tonumfang bewältigen, aber der Form nach ist das ein zweistrophiges Lied, das sehr geschickt in die Partitur eingeflochten ist. Violetta schließlich sind die ausgreifenden Bögen, die Koloraturen und herabstürzenden Linien zugeordnet, die ihre Seelenlage, ihre Liebe und ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringen.

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La traviata ist nicht nur die Tragödie Violettas, sondern handelt auch vom Erwachsenwerden Alfredos …
Ainārs Rubiķis: Ja, alle Figuren geraten in die Tragödie. Violetta steht natürlich im Zentrum, aber mit ihr sind Vater und Sohn im Konflikt verbunden – und der ist nicht als eindeutig lösbar zu beschreiben. Ich kann das Handeln des alten Germont sehr gut nachvollziehen; er versucht, seinen beiden Kindern, Alfredo und seiner Tochter, ein guter Vater zu sein. Und wenn er zum ersten Mal seinen Sohn wiedertrifft, sagt er: »Oh! Du leidest!«, aber seine Melodielinie verblasst leise. Unvermittelt kommt der Wechsel ins Forte und er fügt hinzu: »Nimm dein Leben in die Hand!« Das kommt ganz plötzlich, militärisch, fast perfekt aristokratisch: »Männer weinen nicht«. Das ist natürlich völlig falsch, aber er fordert Härte des Sohnes gegen sich selbst, unter Berufung auf die Tochter bzw. Schwester. Zuletzt erkennt der Vater, dass er die Liebe und die Beziehung zwischen zwei Menschen zerstört hat und dadurch nicht nur Violetta, sondern auch seinen Sohn verloren hat. Er ist letztlich ebenso ein Getriebener der Umstände …
Ainārs Rubiķis: Ja, alle Figuren geraten in die Tragödie. Violetta steht natürlich im Zentrum, aber mit ihr sind Vater und Sohn im Konflikt verbunden – und der ist nicht als eindeutig lösbar zu beschreiben. Ich kann das Handeln des alten Germont sehr gut nachvollziehen; er versucht, seinen beiden Kindern, Alfredo und seiner Tochter, ein guter Vater zu sein. Und wenn er zum ersten Mal seinen Sohn wiedertrifft, sagt er: »Oh! Du leidest!«, aber seine Melodielinie verblasst leise. Unvermittelt kommt der Wechsel ins Forte und er fügt hinzu: »Nimm dein Leben in die Hand!« Das kommt ganz plötzlich, militärisch, fast perfekt aristokratisch: »Männer weinen nicht«. Das ist natürlich völlig falsch, aber er fordert Härte des Sohnes gegen sich selbst, unter Berufung auf die Tochter bzw. Schwester. Zuletzt erkennt der Vater, dass er die Liebe und die Beziehung zwischen zwei Menschen zerstört hat und dadurch nicht nur Violetta, sondern auch seinen Sohn verloren hat. Er ist letztlich ebenso ein Getriebener der Umstände …

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… die er sich nicht ausgesucht hat.
Ainārs Rubiķis: Gewiss! Es ist ja bekannt, dass Verdi große Nähe zum italienischen Volk suchte. Er war der Komponist des Risorgimento, der nationalen Einigungsbewegung im Italien der Jahrhundertmitte. Und ich meine, dass dieser revolutionäre Geist auch in La traviata zu finden ist. Das Werk steht fast am Ende jenes Jahrzehnts im Schaffen des Komponisten, in dem er, seit der Uraufführung von Nabucco (1842), insgesamt neunzehn Opern schuf. Es wird oft gesagt, die Traviata wäre für Verdi untypisch, weil sie einen so vordergründig »privaten« Konflikt behandelt, eben den Liebeskonflikt. Aber der ist ja in diesem Fall auch ein gesellschaftlicher. Verdi zeigt die Figuren in ihrem gesellschaftlichen Bedingtsein. Im Unterschied zu Rigoletto erwächst hier der Konflikt nicht zwischen den verschiedenen Ständen, dem Adeligen und seinem Diener; sondern innerhalb der Welt der Bürger, aus deren Moralvorstellungen angesichts einer Frau wie Violetta.
Welchen Ort hat La traviata im Werk des Komponisten?
Ainārs Rubiķis: In musikalischer Hinsicht führt Verdi in jenen Jahren die Tradition der italienischen Oper fort, aber er erweitert sie, er entwickelt sich neue Mittel, weil er neue Anforderungen an das Musiktheater stellt. In formaler Hinsicht bleibt er beim Prinzip der musikalischen Nummern, aber er bettet die einzelnen Arien derart in die Handlungsstruktur ein, dass sie »natürlich« aus dem Fortgang des Geschehens entstehen.
Verdi war ungeheuer produktiv ...
Ainārs Rubiķis: Ja, die Voraussetzung dafür waren gewisse Konventionen der Operngestaltung. Die erwähnte Dreierkonstellation der Hauptfiguren etwa und auch ein Schematismus in der Abfolge der Nummern und Szenen. Den hat Verdi beibehalten, aber mehr und mehr löst er sich davon. Dabei ist La traviata ein wichtiger Schritt zu mehr Wirklichkeitsnähe in der Oper, Stücke wie Georges Bizets Carmen (1875) und der »Verismo« gegen Ende des Jahrhunderts wären sonst nie entstanden. Verdi nähert die musikalischen Formen dem dramatischen Geschehen an. Seine Rezitative sind nicht mehr nur intonierte Monologe und Dialoge, sondern er versieht sie mit melodischen Wendungen, die die Gefühle der Figuren im individuellen Sprechen ausdrücken. Derart verleiht er auch dem Dialogtext der Szene emotionale Höhe. Man gewinnt so den Eindruck eines ununterbrochenen Gefühlsflusses.
Ainārs Rubiķis: Gewiss! Es ist ja bekannt, dass Verdi große Nähe zum italienischen Volk suchte. Er war der Komponist des Risorgimento, der nationalen Einigungsbewegung im Italien der Jahrhundertmitte. Und ich meine, dass dieser revolutionäre Geist auch in La traviata zu finden ist. Das Werk steht fast am Ende jenes Jahrzehnts im Schaffen des Komponisten, in dem er, seit der Uraufführung von Nabucco (1842), insgesamt neunzehn Opern schuf. Es wird oft gesagt, die Traviata wäre für Verdi untypisch, weil sie einen so vordergründig »privaten« Konflikt behandelt, eben den Liebeskonflikt. Aber der ist ja in diesem Fall auch ein gesellschaftlicher. Verdi zeigt die Figuren in ihrem gesellschaftlichen Bedingtsein. Im Unterschied zu Rigoletto erwächst hier der Konflikt nicht zwischen den verschiedenen Ständen, dem Adeligen und seinem Diener; sondern innerhalb der Welt der Bürger, aus deren Moralvorstellungen angesichts einer Frau wie Violetta.
Welchen Ort hat La traviata im Werk des Komponisten?
Ainārs Rubiķis: In musikalischer Hinsicht führt Verdi in jenen Jahren die Tradition der italienischen Oper fort, aber er erweitert sie, er entwickelt sich neue Mittel, weil er neue Anforderungen an das Musiktheater stellt. In formaler Hinsicht bleibt er beim Prinzip der musikalischen Nummern, aber er bettet die einzelnen Arien derart in die Handlungsstruktur ein, dass sie »natürlich« aus dem Fortgang des Geschehens entstehen.
Verdi war ungeheuer produktiv ...
Ainārs Rubiķis: Ja, die Voraussetzung dafür waren gewisse Konventionen der Operngestaltung. Die erwähnte Dreierkonstellation der Hauptfiguren etwa und auch ein Schematismus in der Abfolge der Nummern und Szenen. Den hat Verdi beibehalten, aber mehr und mehr löst er sich davon. Dabei ist La traviata ein wichtiger Schritt zu mehr Wirklichkeitsnähe in der Oper, Stücke wie Georges Bizets Carmen (1875) und der »Verismo« gegen Ende des Jahrhunderts wären sonst nie entstanden. Verdi nähert die musikalischen Formen dem dramatischen Geschehen an. Seine Rezitative sind nicht mehr nur intonierte Monologe und Dialoge, sondern er versieht sie mit melodischen Wendungen, die die Gefühle der Figuren im individuellen Sprechen ausdrücken. Derart verleiht er auch dem Dialogtext der Szene emotionale Höhe. Man gewinnt so den Eindruck eines ununterbrochenen Gefühlsflusses.

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Darin ist Verdi seinem Zeitgenossen Richard Wagner vergleichbar ...
Ainārs Rubiķis: Beide Komponisten gelten als die großen Antipoden ihrer Zeit, sie sind die Schwungräder der modernen Oper. Allerdings entstammt Verdi der italienischen Tradition – für ihn spielte die Opera seria und die Virtuosität des italienischen Operngesangs eine so große Rolle, dass er nicht einfach aus dem Kontext seiner Zeit heraustreten konnte und, wie Wagner das tat, fortan »Musikdramen« komponierte. Er erweiterte vielmehr das bestehende Formprinzip – Rezitativ, Arioso, Rezitativ/Dialog und Cabaletta – und so gelang ihm, was auch Wagner umtrieb: Musik und Drama »wirklichkeitsnäher« zu verbinden. In Wagners Theaterdenken gehört dann auch die Arbeit mit den »Leitmotiven«, die bei Verdi nicht in dieser Stringenz anzutreffen ist. Gleichwohl gibt es auch bei Verdi wiederkehrende Motive und melodische Wendungen. In La traviata etwa das Motiv des Vorspiels oder Violettas »Così alla misera« im Duett des zweiten Aktes sowie »Addio, del passato« im letzten Akt. Violettas meist fallende Gesangslinien sind einander ähnlich gestaltet, so charakterisiert Verdi die Figur und sichert einen Zusammenhalt über den zeitlichen Verlauf des Werkes. Alfredos Kantilene »Di quell’amor« schließlich zieht sich wie ein Erinnerungsmotiv durch das Werk. Eine ganz besondere Funktion kommt in La traviata der Walzer-Rhythmik zu. Von Anfang an taucht immer wieder dieser Tanz auf – und nicht nur in den großen Gesellschaftsbildern. Das war der Gesellschaftstanz dieses Jahrhunderts, seinen Durchbruch erlebte er auf dem Wiener Kongress 1814/15. Die gesamte Gesellschaft walzte. Mit diesem Tanz betont Verdi einerseits die öffentliche Dimension der Geschichte. Andererseits ist das Walzertanzen leicht zu lernen und war eine der wenigen Möglichkeiten, die gewohnte Ordnung in der Gesellschaft zu durchbrechen. So hat der Tanz auch eine grenzüberschreitende und erotische Dimension – er wird geradezu zur sinnlichen, akustischen Metapher der Tragödie Violettas.
Ainārs Rubiķis: Beide Komponisten gelten als die großen Antipoden ihrer Zeit, sie sind die Schwungräder der modernen Oper. Allerdings entstammt Verdi der italienischen Tradition – für ihn spielte die Opera seria und die Virtuosität des italienischen Operngesangs eine so große Rolle, dass er nicht einfach aus dem Kontext seiner Zeit heraustreten konnte und, wie Wagner das tat, fortan »Musikdramen« komponierte. Er erweiterte vielmehr das bestehende Formprinzip – Rezitativ, Arioso, Rezitativ/Dialog und Cabaletta – und so gelang ihm, was auch Wagner umtrieb: Musik und Drama »wirklichkeitsnäher« zu verbinden. In Wagners Theaterdenken gehört dann auch die Arbeit mit den »Leitmotiven«, die bei Verdi nicht in dieser Stringenz anzutreffen ist. Gleichwohl gibt es auch bei Verdi wiederkehrende Motive und melodische Wendungen. In La traviata etwa das Motiv des Vorspiels oder Violettas »Così alla misera« im Duett des zweiten Aktes sowie »Addio, del passato« im letzten Akt. Violettas meist fallende Gesangslinien sind einander ähnlich gestaltet, so charakterisiert Verdi die Figur und sichert einen Zusammenhalt über den zeitlichen Verlauf des Werkes. Alfredos Kantilene »Di quell’amor« schließlich zieht sich wie ein Erinnerungsmotiv durch das Werk. Eine ganz besondere Funktion kommt in La traviata der Walzer-Rhythmik zu. Von Anfang an taucht immer wieder dieser Tanz auf – und nicht nur in den großen Gesellschaftsbildern. Das war der Gesellschaftstanz dieses Jahrhunderts, seinen Durchbruch erlebte er auf dem Wiener Kongress 1814/15. Die gesamte Gesellschaft walzte. Mit diesem Tanz betont Verdi einerseits die öffentliche Dimension der Geschichte. Andererseits ist das Walzertanzen leicht zu lernen und war eine der wenigen Möglichkeiten, die gewohnte Ordnung in der Gesellschaft zu durchbrechen. So hat der Tanz auch eine grenzüberschreitende und erotische Dimension – er wird geradezu zur sinnlichen, akustischen Metapher der Tragödie Violettas.
Mehr dazu
15. März 2025
»Wenn nachts die Sonne schiene, wäre es keine Nacht mehr«
Eine Oper, die zur Legende wurde – und eine Frau, deren Leben und Leiden die Welt bis heute bewegt: Giuseppe Verdis La traviata erzählt die tragische Geschichte der Violetta Valéry, inspiriert von der realen Marie Duplessis, der berühmtesten Kurtisane des 19. Jahrhunderts. Ihre Schönheit, ihr Charme und ihr tragisches Schicksal wurden durch Alexandre Dumas’ Die Kameliendame verewigt – und fanden ihren ultimativen Ausdruck in Verdis ergreifender Musik. Doch La traviata ist mehr als ein Drama über Liebe und Verlust. Es ist eine bittere Anklage gegen die Doppelmoral der Gesellschaft, eine Reflexion über den Preis von Freiheit und Leidenschaft – und eine Oper, die mit jedem neuen Jahrhundert ihre Aktualität behauptet. Von der skandalösen Uraufführung bis zu den gefeierten Inszenierungen mit Maria Callas oder Anna Netrebko: Jede Generation hat ihre eigene Violetta, ihr eigenes Ringen um die große, unerreichbare Liebe. Was macht La traviata so einzigartig? Warum berührt uns Violettas Schicksal bis heute? Und welche Utopie steckt in Verdis Musik? Tauchen Sie ein in eine Geschichte voller Leidenschaft, Verzweiflung und unsterblicher Melodien.
#KOBTraviata
Einführung
13. März 2025
Violetta will leben
In Nicola Raabs La traviata ist Violetta keine Kurtisane des 19. Jahrhunderts mehr. Als moderne Sexarbeiterin wandelt sie selbstbewusst im digitalen Raum. Ihr Leben ist ein endloser Strom aus Beobachtung, Konsum und virtueller Nähe, die doch nichts als Einsamkeit hinterlässt. Als sie erfährt, dass sie sterben wird, beginnt eine fieberhafte Flucht – nicht vor dem Tod, sondern vor der Leere. Zwischen Realität und Fantasie sucht sie nach einem Ausweg, nach Liebe, nach Selbstbestimmung. Nicola Raab holt Verdis La traviata radikal in die Gegenwart und deutet die Geschichte über Moral als ein um Identität, Kontrolle und die Illusion von Freiheit. Ein Gespräch über Mythologie, Fantasie und Autonomie einer ganz gegenwärtigen Violetta.
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Interview