© Iko Freese / drama-berlin.de
Alles am Brodeln
Generalmusikdirektor Henrik Nánási über Intimität und Pathos in Tschaikowskis Jewgeni Onegin
Menschliche Leidenschaften stehen im Zentrum von Jewgeni Onegin, wie werden diese von Tschaikowski komponiert?
Henrik Nánási Er wollte keine großen theatralischen Gesten, wiewohl sehr viel Theatermusik in Onegin steckt. Man muss intensiv an der Form des Werkes arbeiten, das nicht wie eine klassische Oper aufgebaut ist: Die Handlung kennt kaum Action, vielmehr lösen die Gefühle und Gemütszustände der Figuren das Geschehen aus. Die Intimität ist das Wesentliche im Stück. Die Versuchung ist groß, sich der glanzvollen, theatralischen Sprache Tschaikowskis zu überlassen. Man muss aber stattdessen zwei, drei Schritte zurücktreten können, um Poesie und Sensibilität zu bewahren. In Jewgeni Onegin verwendet Tschaikowski Glanz und großes Pathos sehr dosiert. Was für uns beim ersten Hören sehr emotional klingt, ist mitunter sogar ausgesprochen anti-emotional gemeint.
Gerade der Beginn scheint sehr undramatisch zu sein, beinahe ohne Spannung ...
Henrik Nánási Es sind Szenen aus einem Leben; das Werk beginnt mit einer Serie von Anfängen, die sich in sich selbst zu verlieren scheinen. Im Vorspiel trifft die sehnsüchtige Melodie der Streicher immer wieder auf ein »Nein« der Bläser. Das darauffolgende Quartett der vier Frauen und gleich im Anschluss der Chor der Landleute mit seinen modalen, beinahe sakral wirkenden Farben scheinen ein klingendes Perpetuum mobile zu sein. Diese Ruhe, die über allem liegt, ist nicht einfach Ruhe, sondern vergehende Zeit und Lebenslauf. Jeder Tag ist so, diese Menschen leben jeden Tag das gleiche Leben. Die Musik erzählt von Anfang an diese Unveränderbarkeit der Situation, die nur tragisch enden kann. Aus der vordergründigen Monotonie rührt die Sehnsucht aller Beteiligten, eben daraus auszubrechen – und daran scheitern sie. Es gibt kein Entkommen, egal ob man Tatjana, Lenski oder Onegin heißt, man ist in dieser Gesellschaft einbetoniert, einzementiert.
Henrik Nánási Er wollte keine großen theatralischen Gesten, wiewohl sehr viel Theatermusik in Onegin steckt. Man muss intensiv an der Form des Werkes arbeiten, das nicht wie eine klassische Oper aufgebaut ist: Die Handlung kennt kaum Action, vielmehr lösen die Gefühle und Gemütszustände der Figuren das Geschehen aus. Die Intimität ist das Wesentliche im Stück. Die Versuchung ist groß, sich der glanzvollen, theatralischen Sprache Tschaikowskis zu überlassen. Man muss aber stattdessen zwei, drei Schritte zurücktreten können, um Poesie und Sensibilität zu bewahren. In Jewgeni Onegin verwendet Tschaikowski Glanz und großes Pathos sehr dosiert. Was für uns beim ersten Hören sehr emotional klingt, ist mitunter sogar ausgesprochen anti-emotional gemeint.
Gerade der Beginn scheint sehr undramatisch zu sein, beinahe ohne Spannung ...
Henrik Nánási Es sind Szenen aus einem Leben; das Werk beginnt mit einer Serie von Anfängen, die sich in sich selbst zu verlieren scheinen. Im Vorspiel trifft die sehnsüchtige Melodie der Streicher immer wieder auf ein »Nein« der Bläser. Das darauffolgende Quartett der vier Frauen und gleich im Anschluss der Chor der Landleute mit seinen modalen, beinahe sakral wirkenden Farben scheinen ein klingendes Perpetuum mobile zu sein. Diese Ruhe, die über allem liegt, ist nicht einfach Ruhe, sondern vergehende Zeit und Lebenslauf. Jeder Tag ist so, diese Menschen leben jeden Tag das gleiche Leben. Die Musik erzählt von Anfang an diese Unveränderbarkeit der Situation, die nur tragisch enden kann. Aus der vordergründigen Monotonie rührt die Sehnsucht aller Beteiligten, eben daraus auszubrechen – und daran scheitern sie. Es gibt kein Entkommen, egal ob man Tatjana, Lenski oder Onegin heißt, man ist in dieser Gesellschaft einbetoniert, einzementiert.
© Iko Freese / drama-berlin.de
Zugleich sind die Charaktere sehr differenziert geschildert …
Henrik Nánási Das ist das Spannende an diesem Werk. Die Partitur verlangt sehr viel, auch stimmlich. Allein die Briefszene präsentiert ein Panorama verschiedenster Impulse, Farben und Leidenschaften. Tatjana zeigt ihr ganzes Innenleben in dieser Szene. Und musikalisch ist das ein Wechselspiel: Einmal kommentiert das Orchester Tatjanas Gefühle, ein anderes Mal antizipiert das Orchester eine Änderung im Gemütszustand der Figur. Ein ständiges Hin und Her, ein Frage-Antwort-Spiel zwischen Orchester und Sängerin. Überhaupt ist das Ariosohafte und Rezitativische für das Stück sehr bezeichnend; wie ein Dialog zwischen Orchester und Stimmen, ein Konversationsschauspiel. Dabei ist Tschaikowskis Musik alles andere als eindeutig. Die Arie des Gremin ist zwar eine Liebesbekundung, aber auch starr und formal, darin ist er dem Charakter Onegins durchaus ähnlich. Der Unterschied besteht in dem, was sie aus ihrem Leben gemacht haben. Schließlich erlebt Onegin diesen heftigen Gefühlsausbruch, für den Tschaikowski Worte und Musik Tatjanas aus der Briefszene im 1. Akt zitiert, bei der nur das Publikum Zeuge war.
Henrik Nánási Das ist das Spannende an diesem Werk. Die Partitur verlangt sehr viel, auch stimmlich. Allein die Briefszene präsentiert ein Panorama verschiedenster Impulse, Farben und Leidenschaften. Tatjana zeigt ihr ganzes Innenleben in dieser Szene. Und musikalisch ist das ein Wechselspiel: Einmal kommentiert das Orchester Tatjanas Gefühle, ein anderes Mal antizipiert das Orchester eine Änderung im Gemütszustand der Figur. Ein ständiges Hin und Her, ein Frage-Antwort-Spiel zwischen Orchester und Sängerin. Überhaupt ist das Ariosohafte und Rezitativische für das Stück sehr bezeichnend; wie ein Dialog zwischen Orchester und Stimmen, ein Konversationsschauspiel. Dabei ist Tschaikowskis Musik alles andere als eindeutig. Die Arie des Gremin ist zwar eine Liebesbekundung, aber auch starr und formal, darin ist er dem Charakter Onegins durchaus ähnlich. Der Unterschied besteht in dem, was sie aus ihrem Leben gemacht haben. Schließlich erlebt Onegin diesen heftigen Gefühlsausbruch, für den Tschaikowski Worte und Musik Tatjanas aus der Briefszene im 1. Akt zitiert, bei der nur das Publikum Zeuge war.
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Sind die großen Gesellschaftsszenen mit Chor und Tanz ein Tribut an die Opernkonventionen?
Henrik Nánási Teils sind sie Kolorit, teilweise Ausdruck der russischen Kultur, die in einer engen Beziehung zu Frankreich stand. Das gesellschaftliche Element ist im Stück sehr wichtig. Die Musik ist an die Orte gebunden, ein städtischer Ball klingt anders als ein Namenstagsfest auf dem Lande. Den Gesprächen unterliegt oft Tanzmusik – zum Beispiel dem Parlando des Onegin, wenn er Tatjanas Brief zurückbringt – wodurch eine Spannung zwischen Situation und Innenwelt der Charaktere entsteht. An Stellen wie dieser und auch beim Streit auf der Namenstagfeier wird eine Atmosphäre der Spannung offenbar. Alles ist am Brodeln, kurz vor dem Ausbruch.
Henrik Nánási Teils sind sie Kolorit, teilweise Ausdruck der russischen Kultur, die in einer engen Beziehung zu Frankreich stand. Das gesellschaftliche Element ist im Stück sehr wichtig. Die Musik ist an die Orte gebunden, ein städtischer Ball klingt anders als ein Namenstagsfest auf dem Lande. Den Gesprächen unterliegt oft Tanzmusik – zum Beispiel dem Parlando des Onegin, wenn er Tatjanas Brief zurückbringt – wodurch eine Spannung zwischen Situation und Innenwelt der Charaktere entsteht. An Stellen wie dieser und auch beim Streit auf der Namenstagfeier wird eine Atmosphäre der Spannung offenbar. Alles ist am Brodeln, kurz vor dem Ausbruch.
Mehr dazu
19. Dezember 2023
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Die Oper Jewgeni Onegin ist das Porträt eines skrupellosen Antihelden, versunken in seiner fremdbestimmten Ichbezogenheit, verwirrt durch Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit. Was qualifiziert dann Onegin überhaupt zum Titelhelden? Was ist über ihn so außerordentlich erzählenswert, wenn Lebensüberdruss, Lethargie und Langeweile seine wohlgepflegten Charaktereigenschaften sind?
#KOBOnegin
Oper
Einführung
11. Dezember 2023
Der Kaiser erklärt ... den Rasen
Wie man es hinbekommt, dass der Rasen auf der Bühne von Barrie Koskys Jewegeni Onegin so natürlich aussieht, warum dieser Rasen feuerfest sein muss und ob ihm Regen etwas ausmacht – unser technischer Direktor Daniel Kaiser erklärt: den Rasen!
KOBOnegin
Der Kaiser erklärt
2. Februar 2016
Eine Pointe von Tschaikowskys »Lyrischen Szenen« liegt in der Verweigerung opernhafter Äußerlichkeit. Barrie Kosky ist klug genug, das zu erkennen. Alle Regiemätzchen und virtuosen Knalleffekte hat sich der sonst so bilderstürmerische Regisseur jetzt in dieser atmosphärischen Inszenierung versagt. Umso stärker geht sie unter die Haut. Kosky verblüfft mit diesem Onegin als Meister einer einfühlsamen und brillant psychologisierenden Personenregie, wie wir sie etwa aus den großen Zeiten von Peter Stein an der Berliner Schaubühne kennen.
Unerwiderte Gefühle
Julia Spinola, Deutschlandfunk
Julia Spinola, Deutschlandfunk
#KOBOnegin
2. Februar 2016
Kosky zeigt, was er auch kann: behutsam führen, das Innerste der Figuren ins Äußere der Protagonisten kehren...
Im Dickicht der Gefühle
Julia Kaiser, Berliner Morgenpost
Julia Kaiser, Berliner Morgenpost
#KOBOnegin
2. Februar 2016
Koskys Regie ist ein Geniestück ohne Zeigefinger, ohne Besserwisserei, ohne Anklage. Die Wiedergeburt des psychologischen Realismus ohne Desavouierung der Figuren ... Es ist ein ganz selten gewordener poetischer Realismus, mit dem Barrie Kosky und seine fantastische Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hier ihren Tschaikowsky aus dem Geiste eines Tschechow oder Tolstoi zu lesen verstehen. … Diese Bildsetzung ist von geradezu filmischer Direktheit (und kommt doch glücklicherweise ganz ohne überflüssige Videosequenzen aus), sie öffnet indes, über die sensibel die Tageszeiten nachzeichnenden Lichtstimmungen immer wieder weite Sehnsuchtsräume. In ihnen kommen kleine Gesten der Figuren endlich wieder zu großer Wirkung – Gesten und Regungen der Solisten wie jenen des Chores, den Kosky in meisterlicher Individualisierung zu aktivieren versteht.
Demut schlägt Dekonstruktion - »Ein Regie-Geniestück: Hausherr Barrie Kosky erfindet den poetischen Realismus neu«
Peter Krause, Concerti.de
Peter Krause, Concerti.de
#KOBOnegin
1. Februar 2016
Dieser Onegin wird bleiben. Es ist eine Referenzregie.
400 Quadratmeter Kunstrasen für eine Oper ... Regisseur Barrie Kosky triumphiert nun damit in Berlin
Elmar Krekeler, Die Welt
Elmar Krekeler, Die Welt
#KOBOnegin
1. Februar 2016
… wie genau Kosky in die Abgründe aller Beteiligten schaut, ist bewundernswert.
Feinnerviges Psychogramm junger Leute
Uwe Friedrich, BR Klassik
Uwe Friedrich, BR Klassik
#KOBOnegin