© Jan Windszus Photography
Der Wald hat Ohren
Über wundersames Schwirren, tollen Unfug und die Unwiderstehlichkeit von Geheimnissen in Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel – eine Einführung von Sophie Jira
Als Erdbeeren noch Erbeln hießen und man Kinderaugen noch mit Johannisbrot und Jungfernleder zum Leuchten bringen konnte, machte sich ein deutsches Geschwisterpaar eifrig ans Rosinenpicken im Märchenwald: Engelbert Humperdinck und Adelheid Wette suchten im Jahr 1890 aus einem fantastisch-gigantischen Fundus all jene zauberhaften Zutaten heraus, die sie zu einem neuen Märchenspiel anrühren wollten. Fertig gebacken ging dieses Werk weg wie warmer Lebkuchen. Einen so kolossalen Erfolg hätten sich die beiden nicht zu träumen gewagt, war Hänsel und Gretel doch ursprünglich nur Adelheids Töchtern zugedacht.
Märchenspiele hatten im Hause Humperdinck-Wette Tradition: Familienfeiern wie Geburtstage oder Silberhochzeiten nahm man gerne zum Anlass, Aufführungen im häuslichen Kreis zu veranstalten. So dichtete Adelheid Wette ihrem Mann Hermann zum 34. Geburtstag ein kleines Märchenstück, in dem ihre beiden Töchter als Hänsel und Gretel auftreten sollten. Onkel Engelbert vertonte die vier enthaltenen Liedtexte zweistimmig für seine Nichten. Da das Liederspiel die Verwandten in einer Weise bezauberte, dass sie selbst vor Ideen nur so zu sprühen begannen, bauten Adelheid und Engelbert unter Mitwirkung ihres Vaters und Hermann Wettes das Werk aus, schmückten es mit Köstlichkeiten und luden es mit Volksgut auf. Mit den eingeführten Figuren Sandmann und Taumann, den Kuchenkindern und den 14 Engeln wurde die Singspielfassung immer reicher an Symbolik und Geheimnissen. Ungewöhnlich für eine Märchenhandlung ist dabei die eingezogene Ebene des Träumens, zumal Märchen und Traum einander in Vielem ähneln: Beide wollen gedeutet werden. Beide verhandeln Wünsche und Ängste, bündeln diese in verschrobenen Bildern und stellen sie wundersam verschlüsselt dar.
Märchenspiele hatten im Hause Humperdinck-Wette Tradition: Familienfeiern wie Geburtstage oder Silberhochzeiten nahm man gerne zum Anlass, Aufführungen im häuslichen Kreis zu veranstalten. So dichtete Adelheid Wette ihrem Mann Hermann zum 34. Geburtstag ein kleines Märchenstück, in dem ihre beiden Töchter als Hänsel und Gretel auftreten sollten. Onkel Engelbert vertonte die vier enthaltenen Liedtexte zweistimmig für seine Nichten. Da das Liederspiel die Verwandten in einer Weise bezauberte, dass sie selbst vor Ideen nur so zu sprühen begannen, bauten Adelheid und Engelbert unter Mitwirkung ihres Vaters und Hermann Wettes das Werk aus, schmückten es mit Köstlichkeiten und luden es mit Volksgut auf. Mit den eingeführten Figuren Sandmann und Taumann, den Kuchenkindern und den 14 Engeln wurde die Singspielfassung immer reicher an Symbolik und Geheimnissen. Ungewöhnlich für eine Märchenhandlung ist dabei die eingezogene Ebene des Träumens, zumal Märchen und Traum einander in Vielem ähneln: Beide wollen gedeutet werden. Beide verhandeln Wünsche und Ängste, bündeln diese in verschrobenen Bildern und stellen sie wundersam verschlüsselt dar.
Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck
Märchenspiel in drei Bildern [ 1893 ]
Libretto von Adelheid Wette
Märchenspiel in drei Bildern [ 1893 ]
Libretto von Adelheid Wette
Der Landschaft abgelauscht
Nicht nur Beeren und Pilze, auch Lieder und Geschichten sammelte man im 19. Jahrhundert leidenschaftlich gerne in deutschen Wäldern. An der Suche nach »Volkspoesie« beteiligten sich auch Jacob und Wilhelm Grimm aus sprach- und volkskundlichem Interesse. Denn Zweck dieser Sammelaktion zur Zeit des aufkeimenden Nationalismus war nichts Geringeres als das Finden und Stiften einer deutschen kulturellen Identität. Dazu tingelten die Brüder Grimm allerdings nicht selbst durch Flur und Aue. Sie griffen für ihre Kinder- und Hausmärchen vor allem auf Beiträge von adeligen und bürgerlichen Freunden und Verwandten zurück und bearbeiteten oder übersetzten bestehende Erzählungen. Als die Kinder- und Hausmärchen zu Weihnachten 1812 erstmals erschienen, war auch »Hänsel und Gretel« bereits Teil dieser Sammlung. Die Geschichte der verirrten Geschwister, die im Wald beinahe von einer Hexe gefressen werden, ist in ihrer Urfassung noch ganz unverblümt und voll arger Grausamkeit erzählt. Hier gehört zum Happy End nicht nur das Bezwingen der Hexe, sondern auch der Tod der bösen Mutter. Die Brüder Grimm überarbeiteten das Märchen in den weiteren Ausgaben mehrfach, machten die Mutter zur Stiefmutter, erfanden geflügelte Worte und versuchten, die entschärften Geschichten allmählich in einen »erzählenden Kinderton« zu bringen.
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Auch den 25-jährigen Humperdinck hatten die Grimm’schen Märchen, die er mit Begeisterung im Bett zu lesen pflegte, regelmäßig vom Schlafen abgehalten, wie sein Tagebuch verrät. Ab 1891 schuf Humperdinck auf Grundlage des gemeinsam entwickelten Singspiels schließlich die große spätromantische Märchenoper Hänsel und Gretel, die am 23. Dezember 1893 unter der Leitung von Richard Strauss am Hoftheater in Weimar ihre Uraufführung feierte. Während Adelheid Wettes ursprüngliches Liederspiel noch auf der Grimm’schen Überlieferung basierte, nannte Humperdinck als Märchenvorlage seiner Oper Ludwig Bechsteins Version von »Hänsel und Gretel« aus dessen 1845 erstmals erschienenem Deutschen Märchenbuch. Humperdinck fand in Bechsteins Variante jenes starke Gottvertrauen, das er seiner Märchenoper zugrunde legen wollte. Dass Bechstein Hänsel und Gretel vor dem Einschlafen »einen frommen Abendsegen« beten lässt, bot Humperdinck außerdem Anlass für eine musikalische Einlage. Den Text, den er hierzu vertonte, fand Humperdinck in der 1808 veröffentlichten Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn. Das »Abendgebet mit den 14 Engeln« war dem Herausgeber Clemens Brentano schon 1806 von den Brüdern Grimm zugesendet worden, die es angeblich von ihrer Magd gehört hatten, die es wiederum von ihrer Großmutter wüsste. Am Ende dieses Stille-Post-Spiels nahm Brentano das Abendgebet als Teil der Kinderliedsammlung auf, obwohl frühere Quellen darauf hindeuten, dass es sich dabei um ein Sterbegebet handelte. Dass Abendgebete den nächtlichen Schlaf mit dem Tod gleichsetzten, war keine Seltenheit.
Glücksvögel und Hühnerbeine
Einen »unwegsamen Tannenwald« voller Irrlichter wünschte sich Engelbert Humperdinck als Kulisse für das Zweite Bild. Obwohl Tieren in der Geschichte von Hänsel und Gretel eigentlich nur kleinste Nebenrollen zufallen, wuselt und schwirrt es nur so im Märchenwald. Um es mit Hoffmann von Fallersleben zu sagen: »Alle Vögel sind schon da!« Der Kuckuck ruft, ein Täubchen flattert und kräht morgens kein Hahn, so singen die Kinder eben selbst aus voller Kehle »Kikeriki«. Auch dass die Gänslein barfuß gehen, erfahren wir in einem weiteren Wunderhorn-Volkslied, das Humperdinck in seine Oper aufnahm. Auf dem Rücken eines weißen Entchens schwimmen Hänsel und Gretel in einer der Grimm’schen Versionen über ein großes Wasser zurück nach Hause. Der Romantiker Ludwig Bechstein macht aus dem Entchen einen Schwan, der die Kinder aus der jenseitigen Zauberwelt zurückbringt.
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Fast überrascht es, dass Humperdinck sich als glühender Wagnerianer den Schwan entgehen ließ, hielt er sich doch sonst nicht mit Wagner-Zitaten zurück. Die Liederspielfassung von Hänsel und Gretel hatte Humperdinck in ironischer Anspielung auf das »Bühnenweihfestspiel« Parsifal ein »Kinderstuben-Weihfestspiel« genannt. Seiner Leidenschaft für häusliche Märchenspiele war Humperdinck selbst im Hause Wagner schon 1880 nachgegangen: Zur 67. Geburtstagsfeier Richard Wagners hatte Humperdinck eine private Aufführung der Liebesmahlszene aus Parsifal vorbereitet und darin selbst als Gralsritter mitgespielt – worauf der Meister ihn im Folgejahr zu seinem musikalischen Assistenten der Parsifal-Uraufführung in Bayreuth ernannte. Der Familie Wagner blieb Humperdinck eng verbunden, er unterrichtete Wagners Sohn Siegfried in Komposition und fühlte sich zutiefst geehrt, als seine Witwe Cosima 1894 in Dessau Hänsel und Gretel inszenierte. Für diese Aufführung komponierte Humperdinck auf Wunsch Cosimas einen etwas längeren, marschartigen »Dessauer Schluss«, den er selbst scherzend mit dem Aufmarsch der Gesellen in den Meistersingern verglich.
Davon, dass Humperdinck nicht nur ein kindlich verspielter und romantisch verträumter, sondern auch ein tiefgläubiger Mensch und Künstler war, zeugt der sogenannte »Schutzengelchoral«. Mit jenem sakralen, prächtigen Leitmotiv der Oper, das Gottvertrauen, Hoffnung und wunderbares Behütetsein verspricht, erhebt sich aus dem »Abendsegen« die »Traumpantomime«, in der nach Humperdincks Vorstellung 14 Engel von einer Himmelsleiter zu den schlafenden Kindern herabsteigen, um sie zu behüten.
Andere geflügelte Glücksbringer flattern lotsend und schützend auch schon durch die Märchenvorlagen: So weist ein schönes, schneeweißes Vöglein in Grimms »Hänsel und Gretel« den Kindern den Weg und warnt sie bei Bechstein am Ofen der Hexe vor großer Gefahr. Der Erscheinungsform des Heiligen Geistes als weiße Taube gleicht das Vöglein dabei nicht zufällig. Schon bei den Brüdern Grimm war Gretels rettende Idee, die Hexe in den Ofen zu stoßen, eine Eingabe Gottes gewesen. Die schauerliche Gefahr, auf einem Spaziergang durchs Grüne von einem Hexenmaul verschlungen zu werden, lauert allerdings nicht nur im deutschen, sondern auch im russischen Märchenwald. Denn dort wohnt die Baba Jaga, eine der Knusperhexe artverwandte Menschenfresserin mit ganz eigenen Vorlieben: Sie reitet nicht etwa auf einem Besen, wie es im Harz für Hexen Sitte ist, sondern verwischt damit die Spuren, die der große Mörser zieht, in dem sie sich mit dem Stößel rudernd fortbewegt. Ihren Gartenzaun hat die Baba Jaga aus Menschenknochen gebaut, auf den Zaunpfählen stecken Köpfe und als Türschloss dient ein Mund mit scharfen Zähnen. Doch das Merkwürdigste an ihrer Art zu wohnen: Das Haus der Baba Jaga steht auf Hühnerbeinen, kann sich wild drehen und öffnet sich nur durch den richtigen Spruch.
Davon, dass Humperdinck nicht nur ein kindlich verspielter und romantisch verträumter, sondern auch ein tiefgläubiger Mensch und Künstler war, zeugt der sogenannte »Schutzengelchoral«. Mit jenem sakralen, prächtigen Leitmotiv der Oper, das Gottvertrauen, Hoffnung und wunderbares Behütetsein verspricht, erhebt sich aus dem »Abendsegen« die »Traumpantomime«, in der nach Humperdincks Vorstellung 14 Engel von einer Himmelsleiter zu den schlafenden Kindern herabsteigen, um sie zu behüten.
Andere geflügelte Glücksbringer flattern lotsend und schützend auch schon durch die Märchenvorlagen: So weist ein schönes, schneeweißes Vöglein in Grimms »Hänsel und Gretel« den Kindern den Weg und warnt sie bei Bechstein am Ofen der Hexe vor großer Gefahr. Der Erscheinungsform des Heiligen Geistes als weiße Taube gleicht das Vöglein dabei nicht zufällig. Schon bei den Brüdern Grimm war Gretels rettende Idee, die Hexe in den Ofen zu stoßen, eine Eingabe Gottes gewesen. Die schauerliche Gefahr, auf einem Spaziergang durchs Grüne von einem Hexenmaul verschlungen zu werden, lauert allerdings nicht nur im deutschen, sondern auch im russischen Märchenwald. Denn dort wohnt die Baba Jaga, eine der Knusperhexe artverwandte Menschenfresserin mit ganz eigenen Vorlieben: Sie reitet nicht etwa auf einem Besen, wie es im Harz für Hexen Sitte ist, sondern verwischt damit die Spuren, die der große Mörser zieht, in dem sie sich mit dem Stößel rudernd fortbewegt. Ihren Gartenzaun hat die Baba Jaga aus Menschenknochen gebaut, auf den Zaunpfählen stecken Köpfe und als Türschloss dient ein Mund mit scharfen Zähnen. Doch das Merkwürdigste an ihrer Art zu wohnen: Das Haus der Baba Jaga steht auf Hühnerbeinen, kann sich wild drehen und öffnet sich nur durch den richtigen Spruch.
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Halb Haus, halb Huhn – ein so groteskes Mischwesen könnte der Fantasie des niederländischen Renaissancemalers Hieronymus Bosch entsprungen sein. Einen Fisch mit Segelmast, einen Vogel auf Schlittschuhen und andere hybride Kreaturen erfand Bosch für sein Triptychon Die Versuchungen des Heiligen Antonius. Mit der Darstellung halluzinatorischer Fabelwesen und Plagegeister griff er möglicherweise Motive aus dem Hexenhammer auf, einer Streitschrift, die 1486 Hexenverbrennungen und Aberglauben propagierte. Der Meister der dämonischen Wimmelbilder versteckte zahlreiche tierische Symbole in seinen Werken, mit denen er zu einer Zeit der Ketzerverfolgung auch kritische Inhalte verschlüsseln konnte. Den Wald als schweigend wissenden Geheimnishort bildete Bosch in einer Zeichnung aus seinen letzten Schaffensjahren ab, die immer wieder als Selbstdarstellung interpretiert wird: Das Feld hat Augen, der Wald hat Ohren. In der Höhlung eines Baumstammes sitzt eine Eule, Symbol der Weisheit und eine Art Signet Boschs, umspielt von Fuchs, Hahn und Elstern. Als menschliche Fragmente sind nur einzelne Sinnesorgane in der Landschaft verstreut. In den Wald hat Bosch zwei Ohren gezeichnet, aus dem Gras blicken den Betrachter sieben weitgeöffnete Augen an. Der Wald ist ebenso Ort der Idylle wie der Verwirrung, der Ruhe wie der Reizüberflutung.
Die Lust am Rätseln und der Zauber der Zahlen
Das Zweite Bild lässt Humperdinck mit einem Rätsellied beginnen: »Ein Männlein steht im Walde«, 1843 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben gedichtet, reiht sich in eine lange Tradition von Rätseln ein, deren Lösung die Hagebutte ist. Schon in den Vagantenversen der Carmina Burana des 13. Jahrhunderts findet sich ein ähnliches Hagebuttenrätsel. Hoffmann von Fallersleben führt die Ratenden allerdings in die Irre, wachsen Hagebutten doch eigentlich selten »im Wald allein«. Das Männlein »mit dem purpurroten Mäntelein« müsse also ein Fliegenpilz sein, lautet die wohl häufigste Antwort auf die erste Strophe. Dabei verhält sich der Fliegenpilz, dessen Genuss von Rauschzuständen bis zum Tod führen kann, als genaues Gegenteil zur heilenden Hagebutte. Ihren Zweigen wurde im Volksglauben eine vor Zaubersprüchen schützende Wirkung nachgesagt.
Die Märchenwelt ist ein Reich der Rätsel und Geheimnisse, beherrscht von der Macht des Zaubers und beseelt von der Freude am Schabernack. Die Erkenntnis, dass Lebkuchen nichts anderes als lebender Kuchen sein müsse, ist nur eine der magisch-figurativen Ideen, die Engelbert Humperdinck in das ursprüngliche Märchen knüpfte. Dass er die Familie von Hänsel und Gretel statt als Holzhacker als Besenbinder vorstellt, verleiht dem Besen eine symbolische Vermittlerrolle: Er wird der Schlüssel zur Zauberwelt, in der die Hexen auf Besen reiten. Auch dem Zauber der Zahlen ist Humperdinck verfallen: So stehen den 14 Engeln der Traumpantomime die 14 Eier gegenüber, die der Vater im Ersten Bild nach Hause bringt. Die Zahl 14 enthält zweimal – einmal für Hänsel und einmal für Gretel – die heilige, magische oder mystische Zahl Sieben: Man denke nur an die sieben Tage, in denen die Welt erschaffen wurde, an sieben Geißlein und sieben Zwerge oder an die sieben Öffnungen im Kopf des Menschen, durch die er die Welt sinnlich wahrnehmen kann.
Die Märchenwelt ist ein Reich der Rätsel und Geheimnisse, beherrscht von der Macht des Zaubers und beseelt von der Freude am Schabernack. Die Erkenntnis, dass Lebkuchen nichts anderes als lebender Kuchen sein müsse, ist nur eine der magisch-figurativen Ideen, die Engelbert Humperdinck in das ursprüngliche Märchen knüpfte. Dass er die Familie von Hänsel und Gretel statt als Holzhacker als Besenbinder vorstellt, verleiht dem Besen eine symbolische Vermittlerrolle: Er wird der Schlüssel zur Zauberwelt, in der die Hexen auf Besen reiten. Auch dem Zauber der Zahlen ist Humperdinck verfallen: So stehen den 14 Engeln der Traumpantomime die 14 Eier gegenüber, die der Vater im Ersten Bild nach Hause bringt. Die Zahl 14 enthält zweimal – einmal für Hänsel und einmal für Gretel – die heilige, magische oder mystische Zahl Sieben: Man denke nur an die sieben Tage, in denen die Welt erschaffen wurde, an sieben Geißlein und sieben Zwerge oder an die sieben Öffnungen im Kopf des Menschen, durch die er die Welt sinnlich wahrnehmen kann.
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Eine weitere Zahlenspielerei, die allerdings mehr Chaos als Bedeutung stiftet, zitiert Humperdinck in der Hexenküche: Das Hexeneinmaleins, einen gereimten Hokuspokus aus sinnlos vertauschten Zahlen, spricht in Goethes Faust die Hexe, die auf Befehl des Mephistopheles einen Verjüngungstrunk braut. Goethes Verse wurden rasch Gegenstand vielfacher Deutungsversuche. Unter anderem brachte man das Hexeneinmaleins mit sogenannten magischen Quadraten in Verbindung, Anordnungen von Zahlen in drei mal drei Spalten, deren Zeilenund Spaltensummen jeweils 15 ergeben. Die Schriften des Universalgelehrten Athanasius Kircher, in denen er sich magischen Quadraten gewidmet hatte, waren Goethe jedenfalls bekannt. Glaubt man jedoch Mephistopheles, so ist das Hexeneinmaleins nicht mehr als ein »malus iocus«, ein schlechter Scherz. Den menschlichen Irrglauben, alles deuten zu können oder zu müssen, kommentiert der Teufel trocken:
»Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.«
Vor das Dilemma, nicht zu wissen, ob man es mit verschlüsselten Geheiminhalten oder Kauderwelsch zu tun hat, stellt einen auch eines der bemerkenswertesten Zeugnisse menschlicher Geheimniskrämerei und Verstiegenheit: das in Geheimschrift verfasste und bizarr illustrierte Voynich-Manuskript, ein auf circa 1500 datiertes und bis heute nicht entschlüsseltes Schriftstück.
Wie es sich auch für Hexenbücher gehört, enthält das Voynich-Manuskript Kräuterkunde, unverständliche Rezepte und steht im Verdacht, gänzlich sinnfrei zu sein. Benannt nach seinem neuzeitlichen Finder Michael Voynich, sind Verfasser und Illustrator des Werks unbekannt. Einst hatte sich das Manuskript im Besitz Kaiser Rudolfs II. in Prag befunden, der ein Faible für Alchemie, Okkultismus und Kryptografie hegte und sich von Nostradamus persönlich sein Horoskop schreiben ließ. Neben astrologischen Abschnitten und undefinierbaren Kreismustern beinhaltet das Voynich-Manuskript zahlreiche Abbildungen fiktiver Blüten, Blätter, Früchte und Wurzeln sowie kuriose Darstellungen nackter Frauen, die in röhrenförmigen organischen Gebilden baden. Sowohl Athanasius Kircher als auch die Codeknacker der Enigma-Dechiffriermaschine scheiterten an der Entschlüsselung des Voynich-Manuskripts. Vermutlich bleibt also ewig im Dunkeln, was der Heilige Gral der Kryptografie enthält: Wissen, das nur einem kleinen Zirkel vorbehalten bleiben sollte, einen Rätselgruß an die Nachwelt oder doch nur sehr aufwendigen Unfug?
Die menschliche Begeisterung für das Verschlüsseln und Entschlüsseln zieht sich durch alle Epochen und Altersstufen, beeinflusst seit jeher die Weise, wie wir Geschichten erzählen und weitererzählen und ist die Essenz des Märchens. Nur das Schlüsselloch der Fantasie erlaubt es uns, einen Blick
in das Märchenreich grotesker Schönheit zu werfen, den Stimmen schnurriger Fabelwesen zu lauschen und das Gewimmel jener wundersamen Wesen zu bestaunen, deren Heimat die Welt der Träume ist.
»Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.«
Vor das Dilemma, nicht zu wissen, ob man es mit verschlüsselten Geheiminhalten oder Kauderwelsch zu tun hat, stellt einen auch eines der bemerkenswertesten Zeugnisse menschlicher Geheimniskrämerei und Verstiegenheit: das in Geheimschrift verfasste und bizarr illustrierte Voynich-Manuskript, ein auf circa 1500 datiertes und bis heute nicht entschlüsseltes Schriftstück.
Wie es sich auch für Hexenbücher gehört, enthält das Voynich-Manuskript Kräuterkunde, unverständliche Rezepte und steht im Verdacht, gänzlich sinnfrei zu sein. Benannt nach seinem neuzeitlichen Finder Michael Voynich, sind Verfasser und Illustrator des Werks unbekannt. Einst hatte sich das Manuskript im Besitz Kaiser Rudolfs II. in Prag befunden, der ein Faible für Alchemie, Okkultismus und Kryptografie hegte und sich von Nostradamus persönlich sein Horoskop schreiben ließ. Neben astrologischen Abschnitten und undefinierbaren Kreismustern beinhaltet das Voynich-Manuskript zahlreiche Abbildungen fiktiver Blüten, Blätter, Früchte und Wurzeln sowie kuriose Darstellungen nackter Frauen, die in röhrenförmigen organischen Gebilden baden. Sowohl Athanasius Kircher als auch die Codeknacker der Enigma-Dechiffriermaschine scheiterten an der Entschlüsselung des Voynich-Manuskripts. Vermutlich bleibt also ewig im Dunkeln, was der Heilige Gral der Kryptografie enthält: Wissen, das nur einem kleinen Zirkel vorbehalten bleiben sollte, einen Rätselgruß an die Nachwelt oder doch nur sehr aufwendigen Unfug?
Die menschliche Begeisterung für das Verschlüsseln und Entschlüsseln zieht sich durch alle Epochen und Altersstufen, beeinflusst seit jeher die Weise, wie wir Geschichten erzählen und weitererzählen und ist die Essenz des Märchens. Nur das Schlüsselloch der Fantasie erlaubt es uns, einen Blick
in das Märchenreich grotesker Schönheit zu werfen, den Stimmen schnurriger Fabelwesen zu lauschen und das Gewimmel jener wundersamen Wesen zu bestaunen, deren Heimat die Welt der Träume ist.
Januar 2025
Sa
25.
Jan
Im Vorfeld der Veranstaltung um 16:30 Uhr Wochenend-Workshop für Familien
18:00
Premiere
Schillertheater – Großer Saal
April 2025
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22. Januar 2025
Hand in Hand
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#KOBHänselundGretel
Interview
22. Januar 2025
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Ein Gespräch mit Regisseurin Dagmar Manzel über tanzende Bäume, ein hühnerbeiniges Hexenhäuschen und wie das Voynich-Manuskript sie bei Ihrer Inszenierung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel inspiriert hat.
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Interview