© Iko Freese / drama-berlin.de
Menschliche Kaleidoskope
In Barrie Koskys Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny gibt es kein Entkommen: Jeder sieht sich selbst – vervielfacht, verzerrt, gefangen im eigenen Spiegelbild. Zwischen Gier, Macht und Untergang entfaltet sich eine Welt, in der alles erlaubt und der Absturz garantiert ist. In Mahagonny vereinen sich Brechts so schneidender Blick auf die Gesellschaft und Weills grandios-mitreissende Musik zu einem schmerzhaften und aktuellen Blick auf Narzissmus – und auf eine Gesellschaft, die ihren Gemeinsinn verliert. In ganz realen Spiegeln auf der sonst kargen Bühne entfaltet Barrie Kosky die Oper zu einem mit Kaleidoskop menschlicher Absurdität und fragt: Was bleibt von uns, wenn wir uns selbst nicht mehr erkennen? Ein Gespräch über die Bibel, Selfies und den Sündenbock in seiner Inszenierung.
Drei Menschen gründen eine Stadt in der Wüste … Was ist das für ein merkwürdiger Beginn einer Oper?
Barrie Kosky: Mahagonny beginnt in einer Mischung aus Detektivkrimi und Stummfilm – und endet in einer Variante der Passionsgeschichte. Begbick, Fatty und Dreinigkeitsmoses irren durch die Wüste, weil sie wegen einer Mischung aus »Sex, Drugs and Crime« von der Polizei gesucht werden. Sie entwerfen die utopische Idee einer Stadt, in der es um den puren Genuss geht, ohne dass jemand dafür arbeiten muss. Als Zuschauer:in weiß man sofort: Das muss schiefgehen! Und in jeder Utopie steckt schließlich die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass es nicht gut ausgeht. Also wissen wir für die nächsten drei Stunden: Aus der utopischen Idee wird eine Dystopie, und das Spannende bei Kurt Weill und Bertolt Brecht ist, auf welche Art sich das Blatt wenden wird. Es ist eine ziemlich gute Geschichte, stärker und strenger als die der Dreigroschenoper. Und vor allem viel düsterer, denn in Mahagonny gibt es keine Hoffnung.
Barrie Kosky: Mahagonny beginnt in einer Mischung aus Detektivkrimi und Stummfilm – und endet in einer Variante der Passionsgeschichte. Begbick, Fatty und Dreinigkeitsmoses irren durch die Wüste, weil sie wegen einer Mischung aus »Sex, Drugs and Crime« von der Polizei gesucht werden. Sie entwerfen die utopische Idee einer Stadt, in der es um den puren Genuss geht, ohne dass jemand dafür arbeiten muss. Als Zuschauer:in weiß man sofort: Das muss schiefgehen! Und in jeder Utopie steckt schließlich die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass es nicht gut ausgeht. Also wissen wir für die nächsten drei Stunden: Aus der utopischen Idee wird eine Dystopie, und das Spannende bei Kurt Weill und Bertolt Brecht ist, auf welche Art sich das Blatt wenden wird. Es ist eine ziemlich gute Geschichte, stärker und strenger als die der Dreigroschenoper. Und vor allem viel düsterer, denn in Mahagonny gibt es keine Hoffnung.
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny gilt als eines der radikalsten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts, mit dem es Librettist Bertolt Brecht und Komponist Kurt Weill gelingt, die Fallstricke gesellschaftlichen Lebens zu zeigen, sondern auch die Gattung der Oper selbst zu hinterfragen.
Kann man die inhaltliche Ausrichtung von Mahagonnyin zwei Sätzen auf den Punkt bringen?
Barrie Kosky: Man kann in zwei Sätzen erzählen, um was es in La traviata oder in La Bohème geht. Aber die Besonderheit bei Mahagonny ist, dass dieses Stück so reich an Ebenen, Formen und inhaltlichen Richtungen ist, dass man dem Werk in zwei Sätzen nicht gerecht werden kann. Es ist ein Kaleidoskop menschlicher Abgründe, das macht es so fantastisch.
Die Zusammenarbeit von Kurt Weill und Bertolt Brecht, wir kennen das von der Dreigroschenoper, zeichnet sich auch dadurch aus, dass beide Autoren unterschiedliche Auffassungen von ihren gemeinsamen Werken hatten. So auch bei Mahagonny: Wir wissen, was beide vor der Uraufführung geschrieben haben und wie sich ihre Sichtweisen in der Zeit danach verändert haben. Wenn diese fantastischen Künstler an einem Werk arbeiten, muss man auch mit der Widersprüchlichkeit zwischen den beiden leben. Kurt Weill nennt das Werk eine Parabel, und das scheint mir bei allen Gegensätzen sehr wichtig: Mahagonny kommt ein bisschen daher wie ein Moralitäten-Theater, welches sich im Mittelalter großer Beliebtheit erfreute: gut gemachtes Volkstheater des 14. Jahrhunderts, bei dem allegorisch Sünden und Laster in den Mittelpunkt gestellt wurden. Gut und Böse waren klar erkennbar, meist hatte sogar der Teufel persönlich einen Auftritt. Diese Art von Theater und sein Spiel mit Metaphern und Symbolen haben ihren Einfluss bis weit ins 20. Jahrhundert bewahrt. Man denke nur an Hugo von Hofmannsthals Schauspiel Jedermann. Bei Weill ist es eine Mischung aus narrativem Theater, dem Spiel mit Symbolen, psychologischer Dramaturgie und Elementen der Parabel. Und diese Mischung ist im 21. Jahrhundert extrem schwer auf die Bühne zu bringen – dieses Schwanken zwischen verschiedenen inhaltlichen und theatralen Strukturen. Das macht es unmöglich, das Stück auf einen Nenner zu bringen – aber gerade daher liebe ich es so.
Barrie Kosky: Man kann in zwei Sätzen erzählen, um was es in La traviata oder in La Bohème geht. Aber die Besonderheit bei Mahagonny ist, dass dieses Stück so reich an Ebenen, Formen und inhaltlichen Richtungen ist, dass man dem Werk in zwei Sätzen nicht gerecht werden kann. Es ist ein Kaleidoskop menschlicher Abgründe, das macht es so fantastisch.
Die Zusammenarbeit von Kurt Weill und Bertolt Brecht, wir kennen das von der Dreigroschenoper, zeichnet sich auch dadurch aus, dass beide Autoren unterschiedliche Auffassungen von ihren gemeinsamen Werken hatten. So auch bei Mahagonny: Wir wissen, was beide vor der Uraufführung geschrieben haben und wie sich ihre Sichtweisen in der Zeit danach verändert haben. Wenn diese fantastischen Künstler an einem Werk arbeiten, muss man auch mit der Widersprüchlichkeit zwischen den beiden leben. Kurt Weill nennt das Werk eine Parabel, und das scheint mir bei allen Gegensätzen sehr wichtig: Mahagonny kommt ein bisschen daher wie ein Moralitäten-Theater, welches sich im Mittelalter großer Beliebtheit erfreute: gut gemachtes Volkstheater des 14. Jahrhunderts, bei dem allegorisch Sünden und Laster in den Mittelpunkt gestellt wurden. Gut und Böse waren klar erkennbar, meist hatte sogar der Teufel persönlich einen Auftritt. Diese Art von Theater und sein Spiel mit Metaphern und Symbolen haben ihren Einfluss bis weit ins 20. Jahrhundert bewahrt. Man denke nur an Hugo von Hofmannsthals Schauspiel Jedermann. Bei Weill ist es eine Mischung aus narrativem Theater, dem Spiel mit Symbolen, psychologischer Dramaturgie und Elementen der Parabel. Und diese Mischung ist im 21. Jahrhundert extrem schwer auf die Bühne zu bringen – dieses Schwanken zwischen verschiedenen inhaltlichen und theatralen Strukturen. Das macht es unmöglich, das Stück auf einen Nenner zu bringen – aber gerade daher liebe ich es so.

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Was hat Sie an dieser Vielfalt als Erstes fasziniert?
Barrie Kosky: Erstens war es wie bei der Dreigroschenoper die unglaubliche Musik von Kurt Weill, die einen emotional direkt anspricht. Zweites dann die unsympathischen Charaktere. Mahagonny ist eines der seltenen Stücke im Musiktheater, bei denen man vielleicht mit Ausnahme von Jim Mahoney keine Sympathie und Empathie für die Protagonisten hegt. Als ich in jungen Jahren dieses Stück zum ersten Mal gehört habe, beschäftigte mich gerade sehr das Verhältnis von Menschlichkeit und Verständnis, Liebe und Empathie, wie man sie etwa in den Werken von Mozart oder Janáček findet. Mahagonny ist voll von Monstern! Und drittens hat mich das Experiment dieser neu gegründeten Stadt in der Wüste interessiert. Weill und Brecht sind sehr klar, dass es nicht darum geht, eine realistische Stadt in den Vereinigten Staaten abzubilden. Die Stadt sind die Menschen. Die Stadt ist das Volk. Zur gleichen Zeit, als ich mit 15 oder 16 Jahren Mahagonny zum ersten Mal gehört habe, bin ich auch auf Arnold Schönbergs Moses und Aron gestoßen. Es scheint unglaublich, aber beide Stücke sind fast zeitgleich in Deutschland komponiert wurden. Und die biblischen Elemente von Moses und Aron tauchen auch in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wieder auf. Hier aber in der Form einer Parodie! Obwohl man sich nie sicher sein kann, ob es wirklich eine Parodie ist. Das Stück beginnt wie im Alten Testament: Wüste, die Gebote und Plagen in Form des Hurrikans. Das Neue Testament scheint dann im zweiten Teil deutlich durch. Das Schicksal von Jim Mahoney ist fast eine Nacherzählung der Passionsgeschichte von Jesus Christus: die dreifache Verleugnung durch Petrus, hier von Jenny begangen; das letzte Abendmahl ist in Mahagonny eine Einladung zum Whiskey-Saufen; und aus Christus’ »Mich dürstet« wird Jims Wunsch nach einem Glas Wasser vor seiner Hinrichtung. Diese religiösen Bezüge wurden mir erst später bewusst, aber beide Werke, Moses und Aron und Mahagonny haben mich als Teenager unfassbar gepackt. Dieses Spiel mit Utopie und Dystopie – diese Idee von einem Ort, an dem man alles machen darf. Das sind alles Aspekte, die in der Jugendkultur eine große Rolle spielen.
Die Bibel-Bezüge in Mahagonny sind tatsächlich eindeutig. Ist es Parodie oder am Ende doch so etwas wie Verehrung für das »Buch der Bücher«?
Barrie Kosky: Wie so oft bei Weill und Brecht ist es natürlich beides. Ein Beispiel ist die sensationelle, tief berührende Musik, die Weill für Jims Arie »Nur die Nacht« im dritten Akt schreibt. Es ist das einsame Gebet von Jesus Christus im Garten Gethsemane – als Opernarie. Und nur einen Augenblick später hat man diese extrem satirische Gerichtsszene, die an Christus vor den Hohepriestern erinnert, nur jetzt unterlegt mit grandioser Zirkusmusik. In unserer Inszenierung zelebrieren wir diese Ambivalenz des Stücks geradezu.
Barrie Kosky: Erstens war es wie bei der Dreigroschenoper die unglaubliche Musik von Kurt Weill, die einen emotional direkt anspricht. Zweites dann die unsympathischen Charaktere. Mahagonny ist eines der seltenen Stücke im Musiktheater, bei denen man vielleicht mit Ausnahme von Jim Mahoney keine Sympathie und Empathie für die Protagonisten hegt. Als ich in jungen Jahren dieses Stück zum ersten Mal gehört habe, beschäftigte mich gerade sehr das Verhältnis von Menschlichkeit und Verständnis, Liebe und Empathie, wie man sie etwa in den Werken von Mozart oder Janáček findet. Mahagonny ist voll von Monstern! Und drittens hat mich das Experiment dieser neu gegründeten Stadt in der Wüste interessiert. Weill und Brecht sind sehr klar, dass es nicht darum geht, eine realistische Stadt in den Vereinigten Staaten abzubilden. Die Stadt sind die Menschen. Die Stadt ist das Volk. Zur gleichen Zeit, als ich mit 15 oder 16 Jahren Mahagonny zum ersten Mal gehört habe, bin ich auch auf Arnold Schönbergs Moses und Aron gestoßen. Es scheint unglaublich, aber beide Stücke sind fast zeitgleich in Deutschland komponiert wurden. Und die biblischen Elemente von Moses und Aron tauchen auch in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wieder auf. Hier aber in der Form einer Parodie! Obwohl man sich nie sicher sein kann, ob es wirklich eine Parodie ist. Das Stück beginnt wie im Alten Testament: Wüste, die Gebote und Plagen in Form des Hurrikans. Das Neue Testament scheint dann im zweiten Teil deutlich durch. Das Schicksal von Jim Mahoney ist fast eine Nacherzählung der Passionsgeschichte von Jesus Christus: die dreifache Verleugnung durch Petrus, hier von Jenny begangen; das letzte Abendmahl ist in Mahagonny eine Einladung zum Whiskey-Saufen; und aus Christus’ »Mich dürstet« wird Jims Wunsch nach einem Glas Wasser vor seiner Hinrichtung. Diese religiösen Bezüge wurden mir erst später bewusst, aber beide Werke, Moses und Aron und Mahagonny haben mich als Teenager unfassbar gepackt. Dieses Spiel mit Utopie und Dystopie – diese Idee von einem Ort, an dem man alles machen darf. Das sind alles Aspekte, die in der Jugendkultur eine große Rolle spielen.
Die Bibel-Bezüge in Mahagonny sind tatsächlich eindeutig. Ist es Parodie oder am Ende doch so etwas wie Verehrung für das »Buch der Bücher«?
Barrie Kosky: Wie so oft bei Weill und Brecht ist es natürlich beides. Ein Beispiel ist die sensationelle, tief berührende Musik, die Weill für Jims Arie »Nur die Nacht« im dritten Akt schreibt. Es ist das einsame Gebet von Jesus Christus im Garten Gethsemane – als Opernarie. Und nur einen Augenblick später hat man diese extrem satirische Gerichtsszene, die an Christus vor den Hohepriestern erinnert, nur jetzt unterlegt mit grandioser Zirkusmusik. In unserer Inszenierung zelebrieren wir diese Ambivalenz des Stücks geradezu.

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Wo packt man als Regisseur diese reichhaltige Mischung beim Schopfe?
Barrie Kosky: Wenn man in Mahagonny als Regisseur nur den Auftrag sieht, dem Publikum oder einer Gesellschaft zu sagen, wie furchtbar der Kapitalismus ist, auf welch schreckliche Weise die Gier nach Geld den Menschen korrumpieren kann und wie miserabel das Leben an sich sein kann, ist man nach zwei Minuten fertig. »Ihr seid böse Menschen!« – das macht noch keine Inszenierung, da muss dann doch noch etwas mehr kommen. Ein gutes Beispiel ist die grandiose Inszenierung von Joachim Herz 1977 an der Komischen Oper Berlin, die Gott sei Dank auf Film festgehalten wurde. Herz baut seine Inszenierung auf einer Verzahnung von deutscher (Kriegs-)Geschichte mit der Geschichte der DDR auf. Dieser Theaterabend, mit zahlreichen Referenzen an die jüngere deutsche Vergangenheit, konnte in dieser Form nur in der DDR ein paar Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg stattfinden. Mich interessiert das Stück wiederum, weil ich glaube, dass es hinter den großen Parolen noch einige Farben zu entdecken gilt, und zwar sehr existenzielle Farben. Ich glaube, es wäre Kurt Weills Wunsch, dieses Stück in einer solch auf die Menschen konzentrierten Umsetzung zu sehen, wie wir das versuchen – schließlich ist es eine Parabel. Dafür muss man den Text nicht bebildern und verdoppeln. Wenn über Sex und Geld gesungen wird und man nichts anderes als Sex und Geld sieht, wird es fatal. The whole thing collapses! Nicht ohne Grund war auch Brecht fest davon überzeugt, die verschiedenen theatralischen Mittel, also Text, Musik und Spiel, messerscharf voneinander zu trennen. Daher machen wir es genauso wie im Alten Testament: am besten ohne Bebilderung! Denn dieses Stück ist das nächste Kapitel von Moses und Aron. Schönbergs Oper ist Staffel 1, hier kommt Staffel 2: Mahagonny!
Am Ende vom komponierten Teil von Schönbergs Oper folgt das Volk Israel in der Wüste einer Erscheinung, einer Wolkensäule. Und in Staffel 2 stehen sie nun verloren in der Wüste – nur plötzlich stammt die Musik nicht mehr von Schönberg, sondern von Weill! Und Staffel 3 ist in meinen Augen dann Anatevka – doch das führt jetzt zu weit. Aber diese drei Inszenierungen als Trilogie an einem Wochenende zu spielen, das wäre großartig gewesen. Aber zurück zu Staffel 2: Die Israeliten sind verloren in der Wüste, und nun gibt es eine neue musikalische und theatralische Struktur – man spielt mit dem Alten Testament, mit seinen Narrativen und seinen Symbolen. Die Menschen, die nach Mahagonny kommen, sind nichts anderes als eine Form des jüdischen Volks. Arbeitslose, Fabrikarbeiter, Prostituierte, Kriminelle. Um diese Menschen zu zeigen, muss man keine Stadt auf die Bühne stellen. Mahagonny entsteht aus den Bedürfnissen der Menschen. Was braucht das Volk? Was hält eine Gesellschaft zusammen?
Auch heute wieder eine wichtige Frage …
Barrie Kosky: Wir leben heute in einer sehr narzisstischen Zeit, einer Ich-Zeit, geprägt durch Social Media und das Internet. Wir sehen, wie die Idee einer Gemeinde, in der man selbstlos etwas für die anderen macht, bröckelt. Die sozialen Netzwerke sind nichts anderes als ein Spiegel, in dem ich mich selbst immer wieder bespiegeln kann. Man denke nur an das sogenannte Selfie, vielleicht die atemberaubendste und fürchterlichste Form von Narzissmus. In unserer Inszenierung gibt es zwar kein Instagram oder Videoeinspielungen zu sehen, trotzdem sehe ich dieses Thema als einen sich durch den Abend ziehenden Faden.
Am Ende ist das Stück tief pessimistisch. Denn Weill und Brecht legen menschliche Gier, menschliche Blödheit, menschliche Arroganz in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit offen. Was macht der Mensch alles Dummes, um zu überleben? Das ist eine zeitlose Frage. Und mitten in diese Fragen kommt Jim Mahoney als Holzfäller-Philosoph hereinspaziert und erklärt kurz vor dem sicheren Tod im Hurrikan die neue Philosophie: Alles ist erlaubt! Plötzlich wechselt man im zweiten Teil des Stücks in eine Form von Anarchismus. Man kann alles essen, man kann alles ficken, man kann alles trinken. Man kann alles machen. Die ultimative Freiheit.
Barrie Kosky: Wenn man in Mahagonny als Regisseur nur den Auftrag sieht, dem Publikum oder einer Gesellschaft zu sagen, wie furchtbar der Kapitalismus ist, auf welch schreckliche Weise die Gier nach Geld den Menschen korrumpieren kann und wie miserabel das Leben an sich sein kann, ist man nach zwei Minuten fertig. »Ihr seid böse Menschen!« – das macht noch keine Inszenierung, da muss dann doch noch etwas mehr kommen. Ein gutes Beispiel ist die grandiose Inszenierung von Joachim Herz 1977 an der Komischen Oper Berlin, die Gott sei Dank auf Film festgehalten wurde. Herz baut seine Inszenierung auf einer Verzahnung von deutscher (Kriegs-)Geschichte mit der Geschichte der DDR auf. Dieser Theaterabend, mit zahlreichen Referenzen an die jüngere deutsche Vergangenheit, konnte in dieser Form nur in der DDR ein paar Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg stattfinden. Mich interessiert das Stück wiederum, weil ich glaube, dass es hinter den großen Parolen noch einige Farben zu entdecken gilt, und zwar sehr existenzielle Farben. Ich glaube, es wäre Kurt Weills Wunsch, dieses Stück in einer solch auf die Menschen konzentrierten Umsetzung zu sehen, wie wir das versuchen – schließlich ist es eine Parabel. Dafür muss man den Text nicht bebildern und verdoppeln. Wenn über Sex und Geld gesungen wird und man nichts anderes als Sex und Geld sieht, wird es fatal. The whole thing collapses! Nicht ohne Grund war auch Brecht fest davon überzeugt, die verschiedenen theatralischen Mittel, also Text, Musik und Spiel, messerscharf voneinander zu trennen. Daher machen wir es genauso wie im Alten Testament: am besten ohne Bebilderung! Denn dieses Stück ist das nächste Kapitel von Moses und Aron. Schönbergs Oper ist Staffel 1, hier kommt Staffel 2: Mahagonny!
Am Ende vom komponierten Teil von Schönbergs Oper folgt das Volk Israel in der Wüste einer Erscheinung, einer Wolkensäule. Und in Staffel 2 stehen sie nun verloren in der Wüste – nur plötzlich stammt die Musik nicht mehr von Schönberg, sondern von Weill! Und Staffel 3 ist in meinen Augen dann Anatevka – doch das führt jetzt zu weit. Aber diese drei Inszenierungen als Trilogie an einem Wochenende zu spielen, das wäre großartig gewesen. Aber zurück zu Staffel 2: Die Israeliten sind verloren in der Wüste, und nun gibt es eine neue musikalische und theatralische Struktur – man spielt mit dem Alten Testament, mit seinen Narrativen und seinen Symbolen. Die Menschen, die nach Mahagonny kommen, sind nichts anderes als eine Form des jüdischen Volks. Arbeitslose, Fabrikarbeiter, Prostituierte, Kriminelle. Um diese Menschen zu zeigen, muss man keine Stadt auf die Bühne stellen. Mahagonny entsteht aus den Bedürfnissen der Menschen. Was braucht das Volk? Was hält eine Gesellschaft zusammen?
Auch heute wieder eine wichtige Frage …
Barrie Kosky: Wir leben heute in einer sehr narzisstischen Zeit, einer Ich-Zeit, geprägt durch Social Media und das Internet. Wir sehen, wie die Idee einer Gemeinde, in der man selbstlos etwas für die anderen macht, bröckelt. Die sozialen Netzwerke sind nichts anderes als ein Spiegel, in dem ich mich selbst immer wieder bespiegeln kann. Man denke nur an das sogenannte Selfie, vielleicht die atemberaubendste und fürchterlichste Form von Narzissmus. In unserer Inszenierung gibt es zwar kein Instagram oder Videoeinspielungen zu sehen, trotzdem sehe ich dieses Thema als einen sich durch den Abend ziehenden Faden.
Am Ende ist das Stück tief pessimistisch. Denn Weill und Brecht legen menschliche Gier, menschliche Blödheit, menschliche Arroganz in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit offen. Was macht der Mensch alles Dummes, um zu überleben? Das ist eine zeitlose Frage. Und mitten in diese Fragen kommt Jim Mahoney als Holzfäller-Philosoph hereinspaziert und erklärt kurz vor dem sicheren Tod im Hurrikan die neue Philosophie: Alles ist erlaubt! Plötzlich wechselt man im zweiten Teil des Stücks in eine Form von Anarchismus. Man kann alles essen, man kann alles ficken, man kann alles trinken. Man kann alles machen. Die ultimative Freiheit.

© Iko Freese / drama-berlin.de
Aber wie eingangs gesagt, kann das nicht gut ausgehen …
Barrie Kosky: Am Ende kommt es zu einem seltsamen Prozess, eine Mischung aus Alice im Wunderland und Franz Kafka, um die Utopie-Dystopie doch noch irgendwie zu retten. Aber die Musik, die wir hören, ist Zirkusmusik. Das ist schlichtweg genial und zeigt ein weiteres Mal, wie gut es bei Weill und Brecht funktioniert, Musik und Text so deutlich voneinander zu trennen. Jim Mahoney wird zum Sündenbock. Erst wird er für seine Ideen benutzt, dann für die Sünden aller. Doch ist am Ende des Tages irgendwas besser?
Also keine Moral von der Geschicht’?
Barrie Kosky: Weill und Brecht haben keine Antwort für uns. Wir müssen uns selbst fragen: »Was für ein Leben leben wir eigentlich?« Anders als in der Dreigroschenoper wird der Held nicht durch einen Deus ex machina gerettet. Dafür gibt es einen Auftritt von Gott, gesungen von Dreieinigkeitsmoses als Stimme hinter dem Vorhang. Ein parodistischer Auftritt, der nun endgültig verrückt zwischen Altem und Neuen Testament hin- und herpendelt. Bei uns erscheint hier eine »Gott-Maschine«, ein mechanischer Golem, als Parodie auf Darwinismus und Monotheismus. Sie erwacht zum Leben und hat das hebräische Wort für »Emet« (Wahrheit) auf der Stirn eingraviert. Die Kabbalisten glaubten, dass wenn man einen Golem stoppen wollte, man den ersten Buchstaben Aleph von seiner Stirn entfernen musste. Die übrigen Buchstaben ergeben dann das Wort »Met« (Tod). Der Tod steckt also in der Wahrheit. Leider geht die Szene in den meisten Inszenierungen, die ich gesehen habe, unter, weil alle nur mit den großen Demonstrationen der letzten Nummer beschäftigt sind. 1930 war das sicherlich revolutionär, mit Plakaten aufzumarschieren, auf denen stand: »Dekadenz ist schlecht«. Aber nichts altert schneller als Satire, und nichts altert noch schneller als politisches Theater. Shakespeare macht es vor: Gutes politisches Theater zu schreiben, geht am besten durch die Geschichten von Menschen. Das macht Mahagonny und Henry IV. heute noch aktuell. Nicht weil sie historisch oder dokumentarisch sind oder politische Themen behandeln, sondern weil sie Stücke über Menschen sind.
Die zwei Menschen, um die diese Geschichte immer wieder kreist, sind Jim und Jenny …
Barrie Kosky: Kurt Weill und Bertolt Brecht schreiben mit den beiden Figuren einen Anti-Tristan und Isolde. Für die zwei »Liebesszenen« muss man das Wort »Liebe« in Klammern setzen. Sie fragt ihn, was er für sein Geld will. Haare, Make-up, Unterwäsche? Er darf es entscheiden. Aber Weill macht es komplex und kompliziert für uns Zuschauer*innen, weil er diese unfassbar schöne Musik daruntersetzt, die ein emotionales Spektrum sondergleichen eröffnet. Weill macht es ambivalent! Natürlich finden sie sich attraktiv, sie verstehen sich als verlorene Menschen, sie fickt ihn für Geld, aber das war’s dann auch schon. Liebe sieht wirklich anders aus. Und damit sind wir tief im 20. Jahrhundert angekommen: Tristan und Isolde funktioniert nicht mehr. »Und du schreibst 40 Minuten Liebesmusik, Richard Wagner?«, blafft Kurt Weill förmlich in seinen Noten. »Ich schaffe das in eineinhalb Minuten.« Jim und Jenny singen nicht einmal wirklich, sie sprechen über das Orchester hinweg. Und man sieht dabei keine Beziehung auf der Bühne, man sieht nicht mal Momente, in denen eine Beziehung entstehen würde. Das ist auch nicht Intention und Ziel von Weill und Brecht, denn wir sind – nicht vergessen – in einer Parabel! Psychologische Verbindungen interessieren die beiden nicht – und sie sollten uns in diesem Stück auch nicht interessieren.
Die einzige Möglichkeit, das alles eindrucksvoll und überwältigend auf die Bühne zu bringen, ist eine einfache Form, in der der Text und die Musik aus den Menschen und ihren Körpern entsteht. Klaus Grünberg hatte die fantastische Idee, mit Spiegelwänden zu arbeiten, so dass sich alle permanent selber sehen – verdoppelt und verdreifacht! Die Assoziationen, die dabei, im Zusammenspiel mit Weills Musik und Brechts Text entstehen, sind so stark, damit ist alles gesagt.
Barrie Kosky: Am Ende kommt es zu einem seltsamen Prozess, eine Mischung aus Alice im Wunderland und Franz Kafka, um die Utopie-Dystopie doch noch irgendwie zu retten. Aber die Musik, die wir hören, ist Zirkusmusik. Das ist schlichtweg genial und zeigt ein weiteres Mal, wie gut es bei Weill und Brecht funktioniert, Musik und Text so deutlich voneinander zu trennen. Jim Mahoney wird zum Sündenbock. Erst wird er für seine Ideen benutzt, dann für die Sünden aller. Doch ist am Ende des Tages irgendwas besser?
Also keine Moral von der Geschicht’?
Barrie Kosky: Weill und Brecht haben keine Antwort für uns. Wir müssen uns selbst fragen: »Was für ein Leben leben wir eigentlich?« Anders als in der Dreigroschenoper wird der Held nicht durch einen Deus ex machina gerettet. Dafür gibt es einen Auftritt von Gott, gesungen von Dreieinigkeitsmoses als Stimme hinter dem Vorhang. Ein parodistischer Auftritt, der nun endgültig verrückt zwischen Altem und Neuen Testament hin- und herpendelt. Bei uns erscheint hier eine »Gott-Maschine«, ein mechanischer Golem, als Parodie auf Darwinismus und Monotheismus. Sie erwacht zum Leben und hat das hebräische Wort für »Emet« (Wahrheit) auf der Stirn eingraviert. Die Kabbalisten glaubten, dass wenn man einen Golem stoppen wollte, man den ersten Buchstaben Aleph von seiner Stirn entfernen musste. Die übrigen Buchstaben ergeben dann das Wort »Met« (Tod). Der Tod steckt also in der Wahrheit. Leider geht die Szene in den meisten Inszenierungen, die ich gesehen habe, unter, weil alle nur mit den großen Demonstrationen der letzten Nummer beschäftigt sind. 1930 war das sicherlich revolutionär, mit Plakaten aufzumarschieren, auf denen stand: »Dekadenz ist schlecht«. Aber nichts altert schneller als Satire, und nichts altert noch schneller als politisches Theater. Shakespeare macht es vor: Gutes politisches Theater zu schreiben, geht am besten durch die Geschichten von Menschen. Das macht Mahagonny und Henry IV. heute noch aktuell. Nicht weil sie historisch oder dokumentarisch sind oder politische Themen behandeln, sondern weil sie Stücke über Menschen sind.
Die zwei Menschen, um die diese Geschichte immer wieder kreist, sind Jim und Jenny …
Barrie Kosky: Kurt Weill und Bertolt Brecht schreiben mit den beiden Figuren einen Anti-Tristan und Isolde. Für die zwei »Liebesszenen« muss man das Wort »Liebe« in Klammern setzen. Sie fragt ihn, was er für sein Geld will. Haare, Make-up, Unterwäsche? Er darf es entscheiden. Aber Weill macht es komplex und kompliziert für uns Zuschauer*innen, weil er diese unfassbar schöne Musik daruntersetzt, die ein emotionales Spektrum sondergleichen eröffnet. Weill macht es ambivalent! Natürlich finden sie sich attraktiv, sie verstehen sich als verlorene Menschen, sie fickt ihn für Geld, aber das war’s dann auch schon. Liebe sieht wirklich anders aus. Und damit sind wir tief im 20. Jahrhundert angekommen: Tristan und Isolde funktioniert nicht mehr. »Und du schreibst 40 Minuten Liebesmusik, Richard Wagner?«, blafft Kurt Weill förmlich in seinen Noten. »Ich schaffe das in eineinhalb Minuten.« Jim und Jenny singen nicht einmal wirklich, sie sprechen über das Orchester hinweg. Und man sieht dabei keine Beziehung auf der Bühne, man sieht nicht mal Momente, in denen eine Beziehung entstehen würde. Das ist auch nicht Intention und Ziel von Weill und Brecht, denn wir sind – nicht vergessen – in einer Parabel! Psychologische Verbindungen interessieren die beiden nicht – und sie sollten uns in diesem Stück auch nicht interessieren.
Die einzige Möglichkeit, das alles eindrucksvoll und überwältigend auf die Bühne zu bringen, ist eine einfache Form, in der der Text und die Musik aus den Menschen und ihren Körpern entsteht. Klaus Grünberg hatte die fantastische Idee, mit Spiegelwänden zu arbeiten, so dass sich alle permanent selber sehen – verdoppelt und verdreifacht! Die Assoziationen, die dabei, im Zusammenspiel mit Weills Musik und Brechts Text entstehen, sind so stark, damit ist alles gesagt.