Alle wollen einen Messias

Eigentlich ist Händels Oratorium Messiah eine Reflexion über die christliche Erlösungsidee. Doch Damiano Michielettos Inszenierung MESSIAS verlässt den religiösen Rahmen und erzählt eine »menschlich, allzu menschliche« Geschichte. Im Mittelpunkt steht der Kampf der krebserkrankten Brittany Maynard, die im Angesicht des Todes um ihr selbstbestimmtes Leben bis zum selbstgewähltem Ende kämpft. Nicht religiöse Auferstehung bestimmt Michielettos MESSIAS, sondern das Erleben von Freiheit auf einem persönlichem unabwendbarem Leidensweg. Ein Gespräch mit Regisseur Damiano Michieletto über Sinn des Lebens als spirituelle Erfahrung, den Klang von Gemeinschaftsgefühl in Händels Musik und die heilende Erleichterung des Erzählens.
Die Idee hinter Deiner Inszenierung von Händels Messiah ist es, eine »menschliche, allzu menschliche« Geschichte zu erzählen, die durch den tragischen Fall von Brittany Maynard inspiriert wurde – einer amerikanischen Frau, die 2014 im Alter von 29 Jahren erfuhr, dass sie nur noch sechs Monate zu leben hatte und sich für einen ärztlich assistierten Suizid entschied. Was hat Dich an dieser Geschichte fasziniert?

Damiano Michieletto: Vor einigen Jahren bin ich in der englischen und amerikanischen Presse das erste Mal auf Brittany Maynards Geschichte gestoßen. Mich beeindruckte vieles daran: Die Zeugnisse, die sie auf YouTube hinterließ, die bürokratischen Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert wurde, die Tatsache, dass sie von Kalifornien nach Oregon umziehen musste, um die Medikamente zu erhalten, die ihr Leiden beenden könnten, sowie die Angriffe, die sie wegen ihrer Entscheidung, ihr Leben in Würde zu beenden, ertragen musste. Brittany befand sich in dem Dilemma, dass der bei ihr diagnostizierte Hirntumor ihren Zustand jederzeit verschlimmern konnte: Sie wusste, dass ihr nur wenig Zeit zum Handeln blieb und sie eines Morgens plötzlich aufwachen und nicht mehr in der Lage sein könnte, zu sprechen oder ihre Wünsche zu äußern. Ihre Geschichte hat mich jahrelang beschäftigt, auch weil die Frage der Sterbebegleitung in Italien, wie in vielen anderen europäischen Ländern, heftig diskutiert wird. Als die Idee aufkam, den MESSIAS für die Komische Oper Berlin zu inszenieren, kam mir diese Geschichte sofort in den Sinn: Auch wenn sie auf den ersten Blick nichts mit den Psalmen des Librettos zu tun hat, schien mir die Geschichte von jemandem, der mit seinem eigenen Tod konfrontiert wird, sehr passend.

MESSIAS


Oratorium in drei Akten [ 1742 ]
Libretto von Charles Jennens nach Bibeltexten


In Zusammenarbeit mit:
Berliner Konzert Chor, Vokalensemble Sakura, Kantorei Karlshorst der ev. Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde Lichtenberg, Konzertchor Friedenau, Apollo-Chor der Staatsoper Unter den Linden, Unität-Chor, Händelchor Berlin, ORSO - Orchestra and Choral Society Berlin und Sänger:innen aus der Berliner Chorszene.

In Kooperation mit Chorverband Berlin.

Selbstbe­stimm­te Tragödie

Der Messiah handelt sowohl von der Passion als auch von der Auferstehung. Lässt sich eine solche Gegensätzlichkeit auch in der Geschichte von Brittany Maynard erkennen?

Damiano Michieletto: In gewisser Weise ja, obwohl ich in diesem Fall eher von Befreiung als von Auferstehung sprechen würde. Der Leidensweg bzw. die Passion ist deutlich erkennbar: Der Körper eines Menschen, der von einer so brutalen Krankheit befallen ist, erfährt eine physische Zerstörung, die weder kontrolliert noch vorhergesagt werden kann. Eine Art von Auferstehung wird insofern ersichtlich, dass man diese Tragödie durchleben kann, ohne sich als Opfer zu begreifen. Es ist vielleicht nicht gerade eine Wiedergeburt, aber man bleibt sich selbst gegenüber präsent und weiß, was man erlebt, bevor die Krankheit einem alles wegnimmt.
Tisch in der Mitte, an der linken Seite sitzt eine Frau, am rechten Ende steht ein Mann
In gewisser Weise könnte man sagen, dass es eher eine Entscheidung für das Leben als für den Tod ist.

Damiano Michieletto: Ja, der menschliche Zustand bringt es mit sich, dass niemand auf seine Geburt Einfluss nehmen kann. Aber wir haben immer die Möglichkeit, über unseren Tod zu bestimmen.

Du hast bereits die Gewalt und den Hass angedeutet, der Brittany nach ihrer Entscheidung, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden, widerfahren ist und den wir auch in der Inszenierung sehen werden. Ich frage mich, ob es noch eine andere, subtilere Art von Gewalt in der Krankheit gibt. Und zwar, wenn Menschen auf Distanz gehen, nachdem sie entdecken, dass man krank ist.

Damiano Michieletto: Krankheit verändert dich. Ich erinnere mich an eine Erfahrung in meiner Familie: Wenn man während der Behandlung die Haare verliert, ist das ein sehr starkes Zeichen der Andersartigkeit. Und nicht alle sind in der Lage, mit diesem Unbehagen umzugehen und es zu akzeptieren. Das Anderssein schafft oft eine Distanz, einen Riss. Ehrlich gesagt ist dies ein Aspekt, der in der Inszenierung nicht vorkommen wird: Wir werden den körperlichen Verfall der Protagonistin nicht sehen, auch wenn ich lange darüber nachgedacht habe, ob ich ihn einbeziehen soll oder nicht. Psychologisch gesehen ist das Gefühl der Isolation jedoch durchaus vorhanden: Die Frau kann sich durch ihre Krankheit nicht mehr als »normal« definieren. Aber dieser Unterschied kann paradoxerweise auch zu einem wertvollen Geschenk werden, wenn man ihn zu nutzen weiß: Er ermöglicht es, die Dinge auf eine andere, wenig vorhersehbare Weise zu sehen.

Seit Beginn der Proben sind viele Personen gekommen, um Dir ähnliche Erfahrungen mitzuteilen. Wie hast Du Dich dabei gefühlt?

Damiano Michieletto: Wir alle haben eine Erinnerung, die mit diesem Thema zusammenhängt und die deshalb mit Sorgfalt, Respekt und, wenn man so will, mit einer gewissen Distanz behandelt werden muss. Das sind keine Dinge, die man auf die leichte Schulter nehmen kann. Es ist wichtig, nicht so sehr die obszöne Seite der Krankheit zu erzählen, sondern die Art und Weise, wie Krankheit einen die Welt sehen lässt, das Gefühl der Endlichkeit, das sie einen entdecken lässt. Es klingt banal, aber oft ist es die Knappheit, die den Dingen ihren Wert verleiht. Warum ist Gold im Vergleich zu anderen Metallen so wertvoll? Weil es knapp ist. In ähnlicher Weise wird die Zeit wertvoller, wenn sie zu Ende geht. Und das Leben – das vergessen wir allzu oft – ist nichts anderes als die Zeit, die wir haben. Wenn wir wüssten, dass wir nur noch zehn Tage zu leben hätten, würden wir diese Zeit ganz anders nutzen als sonst. Krankheit führt dazu, dass man die Dinge wertschätzt, die es verdienen, und dass man die Nebensächlichkeiten vergisst, die einem wichtig erscheinen, wenn man so tut, als gäbe es den Tod nicht.
Blick von Zuschauertribüne auf Bühne mit hunderten Chorsänger:innen vor kleinen Grasflächen
Der religiöse Aspekt wird bei der Inszenierung eher nicht berücksichtigt?

Damiano Michieletto: Mir ging es nicht darum, über eine rein religiöse Erfahrung zu sprechen: Ich wollte eine menschliche Erfahrung schildern, auch wenn sich alle, die mit dem Tod konfrontiert werden, am Ende Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Gerechtigkeit und den Dilemmata stellen, die in der Regel Religionen tangieren. Aber es ist ein Weg, den ich eher spirituell als religiös bezeichnen würde. Natürlich gibt es auch diejenigen, die in solchen Situationen Zuflucht im Gebet suchen und sich an jene wenden, die versprechen, eine Lösung für ihren Schmerz zu finden. Alle wollen einen Messias.

Klang als Gemeinschaftsgefühl

Dieses Konzept der menschlichen Spiritualität passt zu Händels Musik, die sich etwa von den komplexen Architekturen Bachs unterscheidet.

Damiano Michieletto: Zweifellos habe ich seine Musik immer auf diese Art wahrgenommen. Auch in seinen anderen Werken, wie Giulio Cesare in Egitto oder Alcina, habe ich immer eine Qual, ein Leiden gefunden. Natürlich ist das nicht die einzige Möglichkeit, diese Opern zu inszenieren: Bei diesen Werken sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Aber ich habe in ihnen etwas Subtileres gelesen: eine Aufhebung der Zeit, einen Schmerz, der unter die Haut geht. In Alcina merkt man sofort, dass alle leiden. In Giulio Cesare scheint der Protagonist nie etwas richtig machen zu können. Im Messiah spürt man, auch wenn es keine eigentliche Geschichte gibt und die Texte scheinbar bunt zusammengestellte Bibelstellen darstellen, dennoch ein Gemeinschaftsgefühl, eine Sehnsucht nach einer verlorenen Harmonie: Die Musik ist fast nie muskulös, sie will sich nicht aufdrängen, und selbst wenn sie einen Konflikt mit sich bringt, ist es immer ein innerer Konflikt. Man denke nur an die Chöre, die immer sehr prägnant sind und nie etwas Endgültiges ausdrücken wollen. Oder an die dreiteiligen Arien, die hier jedoch weniger präsent sind als in den Opern: Es ist eine Form, die zum Nachdenken anregt. Man fragt sich, was man mit all diesen »Da capo«-Wiederholungen anfangen soll, und dann merkt man, dass es sich nie um einfache Wiederholungen handelt, sondern um einen Abschnitt, in dem man endlich die Möglichkeit hat, etwas zu vertiefen – einen Gedanken, ein Gefühl –, so wie wenn man ein Kind einen Begriff wiederholen lässt, bis es ihn irgendwann wie von Zauberhand versteht. Es ist gerade diese Leichtigkeit, die Händel so modern macht.
Ein Frau liegt auf Liege eines MRT-Scanners, links neben ihr steht eine Sängerin im Arztkittel
Wie Du bereits gesagt hast, hat dieses Oratorium keine wirkliche Handlung. Die musikalischen Nummern haben unterschiedliche Charaktere, nicht um die Psychologie der Figuren zu definieren, sondern einfach aufgrund der barocken Vorliebe für Variation. Stellt dies ein Hindernis dar, wenn man eine konkrete Geschichte wie die von Brittany in das Werk einbaut?

Damiano Michieletto: Letztlich folgt man, ob man will oder nicht, immer der Poetik von Aristoteles: Man geht von einer Situation der Normalität aus, die durch ein unvorhergesehenes Ereignis gestört wird, um zur Lösung des Konflikts zu gelangen. In unserem Fall wechseln sich leichtere Momente mit dramatischeren ab, wobei wir versuchen, einen Weg zu finden, der das Publikum an die Erzählung bindet. Insbesondere war ich daran interessiert zu zeigen, wie die von einer Schauspielerin dargestellte Protagonistin mit den sie umgebenden Gefühlen der vier Solopartien umgeht, wenn ein katastrophales Ereignis wie Krebs dazwischenkommt.

Sprechen wir über den Chor, der in dieser Inszenierung mit mehreren hundert Personen auf der Bühne zweifelsohne eine zentrale Rolle spielt. Wie interpretierst du die Rolle dieser Beteiligten?

Damiano Michieletto: Der Chor begleitet unsere Geschichte wie eine externe zuschauende Person: Er ist fast nie real präsent, sondern kommentiert das Geschehen. Ihm wird also eine erzählerische Funktion zuteil. Manchmal nimmt er den Standpunkt der Familie ein und verstärkt ihre Gefühle. Ein anderes Mal wird er zur Gegenstimme und fällt ein negatives Urteil über die Entscheidung der Protagonistin. Wie auch in der ursprünglichen Vorlage triumphiert am Ende jedoch das Gemeinschaftsgefühl – der Chor steht der Protagonistin letztlich zur Seite und feiert sie sogar.
Einhundert Sänger:innen stehen verteilt auf Bühne
Was bedeutet deiner Meinung nach der Tod im Theater?

Damiano Michieletto: Die Macht des Theaters beruhte schon immer auf der Fiktion. Seit der griechischen Antike hat die Fiktion es ermöglicht, alle Arten von Grausamkeiten darzustellen: Mütter, die ihre Kinder töten, Geschwister, die ihre Väter umbringen, Söhne, die entdecken, dass sie ihre Mütter geheiratet haben. Aber gerade die Fiktion erlaubt es, diese Geschichten zu erzählen, ohne dass sie für das Publikum unerträglich werden. Im Theater kann der Tod nur deshalb auf so unterschiedliche Weise dargestellt werden, weil man weiß, dass man am Ende von all dem Unbehagen befreit wird, dass man Abstand, Erleichterung, Katharsis findet. Selbst bei Shakespeare bringen sich die Figuren auf grausamste und rücksichtsloseste Weise um – aber am Ende stehen die Akteure auf der Bühne wieder auf, um sich zu verbeugen. Es ist nicht der Gedanke an den Tod, mit dem man das Theater verlässt. Das unterscheidet das Theater von den Nachrichten in den Medien, die eher beunruhigen, weil ihnen der Sicherheitsabstand der Fiktion fehlt. Im Theater kann man mit den intensivsten Gefühlen spielen, weil man weiß, dass man nicht von Unbehagen überwältigt wird, sondern dass man diese Gefühle verstehen und sogar willkommen heißen kann.

Ist es das, was Du mit der Geschichte von Brittany erreichen wolltest?

Damiano Michieletto: Ja, denn ich möchte sie nicht wie eine bloße Nachrichtenreportage behandeln, sondern wie eine Untersuchung darüber, was es bedeutet, einen extremen Moment zu durchleben: eine verheerende Krebserkrankung, sechs Monate zu leben, keine Überlebenschance. Es geht nicht darum, Angst oder Unbehagen hervorzurufen, sondern dem Publikum den Tod mit einem anderen Bewusstsein näherzubringen.
September 2024
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Sa
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Premiere
Georg Friedrich Händel
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Oktober 2024

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