Der »Milch­mann-Pro­phet«

Barrie Kosky über Tra­dition, kul­tu­relle DNA und die Er­fah­rungen der Kind­heit
Anatevka ist eines der weltweit erfolgreichsten Musicals des 20. Jahrhunderts ...

Barrie Kosky Das Publikum findet sich in den Themen des Stücks – Familie, Tradition, gesellschaftliche Veränderungen – wieder. Es ist nicht einfach nur ein Stück über jüdische Geschichte, vielmehr sind die geschilderten Probleme derart allgemeingültig, dass so viele Menschen auch heute mit dieser Familie, diesem Vater und seinen Konflikten etwas anfangen können. Dabei handelt es sich gar nicht um ein Musical im landläufigen Sinne – vielmehr ist das Stück fast ein Schauspiel mit Musik. Tevje hat ganze drei Nummern, davon nur eine wirklich große. Und der Schluss ist das glatte Gegenteil eines »konventionellen« Broadway-Musical-Endes. Kein Happy-End, keine finale Show, in der die Hits noch einmal zitiert werden, sondern wir erleben die Tragödie des Dorfes Anatevka. Die Autoren spielen ganz bewusst mit den Möglichkeiten des Genres und ignorieren im zweiten Teil alle bisherigen Erfolgsrezepte. Sehr viele, vor allem jüdische Intellektuelle haben sich nach der Uraufführung negativ über Anatevka ge­äußert. Für sie war es Kitsch, Schtetl-Romantik, nostalgisch, wirklichkeitsfremd und a-historisch – die Schtetl wären in ihrer Armut und ihrem Elend nie so idyllisch gewesen, sondern schrecklich und nicht »gemütlich«. All dies ist richtig, doch das Publikum findet über die Figur des Tevje einen Zugang zum Stück und taucht mit ihm in die Welt von Anatevka ein. Wichtig ist: Es geht um das theatrale Vergnügen– wir machen kein Dokumentartheater über osteuropäische Schtetl.

Daher sehen wir auch kein Dorf auf der Bühne?

Barrie Kosky Ich wollte, dass das Stück in der Vergangenheit spielt – aber es sollte nichts mit der Welt Chagalls zu tun haben, und ebenso wenig lag mir an einem realistischen Schtetl. Bei West Side Story hatten wir entschieden, alle New-York- und Manhattan-Visualisierungen auszusparen – nötig war eine Metapher. Mit Anatevka ist es ein wenig anders, wir brauchen einen Raum, der als das Dorf verstanden werden kann, um dann am Ende vollständig zu verschwinden. Ich habe sämtliche Koffer verbannt – das internationale Klischee für Juden im Exil. Auch Zimmerchen, Wände und Häuser wollte ich nicht. Im Song »Anatevka«, der letzten Nummer, wird gefragt, was Anatevka denn eigentlich gewesen sei: »ein Stuhl, ein Bett, ein Schrank«. Das war der Ausgangspunkt für Rufus Didwiszus’ Entwurf. Dieses Bühnenbild ist sehr vielseitig verwendbar, die Schränke werden zu Auf- und Abtritten und können »umfunktioniert« werden. Mit diesen Möbeln verbinde ich auch ganz persönliche Erinnerungen daran, wie ich als Kind in meinem Elternhaus in Australien zwischen die Pelzmäntel meines Vaters gekrochen bin; er handelte mit solchen Mänteln. Ich liebte es, mir dazu Geschichten auszudenken über Zeitreisen ins Alte Ägypten beispielsweise. Das Bühnenbild spielt mit dieser Idee der Aufbewahrung von Erinnerungen, Geschichten und Menschen, die aus den alten Gegenständen hervordrängen. Seine Konstruktion orientiert sich am »wilden« Durcheinander der Schtetl, es gab ja weder Architekten noch eine einheitliche Stadtplanung, sondern man baute, wie es Platz, Geld und Materialien zuließen – kreuz und quer. Dieses Prinzip greift unser Bühnenbild auf. Ebenso den transitorischen Charakter dieser Orte. Es gab keine großen Prachtstraßen, sondern Gässchen und Kleinteiligkeit. Das alles kann natürlich sehr schnell niedergebrannt und verlassen werden – und entsprechend verschwanden die Schtetl auch ganz rasch. Es gibt diese Welt nicht mehr. Das ist ein wichtiger Aspekt des Stücks: Wenn die Menschen weg sind, gibt es den Ort nicht mehr. Übrig bleibt ein Haufen verlassener Architektur. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn meine Familie buchstäblich aus einem Schrank zu mir kommen würde. Das ist eine sehr persönliche Kindheitsfantasie. Der kleine Junge zu Beginn ist Tevjes Ur-Urenkel, der auf seines Vaters Violine spielt – und auf einmal strömt das Schtetl aus dem Schrank. Das fand ich viel interessanter als die meisten anderen Lösungen, die ich gesehen habe. Üblicherweise spielt die Violine die Eingangsmelodie, dann gibt es Applaus – denn meist ist Tevje ein bekannter Darsteller und dem applaudiert man – und dann verführt dieser Tevje das Publikum mit großem Hallo: »Ein Fiedler auf dem Dach! Klingt verrückt usw.« Das sieht man ständig.

Szene aus Anatevka
Welche Rolle spielt Ihre persönliche Beziehung zu diesem Stück?

Barrie Kosky Es gibt immer eine Resonanz in mir, ob emotional wie bei Jewgeni Onegin oder eher durch den Humor wie bei Die Perlen der Cleopatra. Immer gibt es etwas, das mich unmittelbar und direkt anspricht. Andernfalls könnte ich die Werke gar nicht auf die Bühne bringen. Anatevka liebe und kenne ich, seit ich ein Kind war. Natürlich hat jeder Jude der Diaspora ein Verhältnis zu diesem Werk, Fiddler on the Roof ist Teil der jüdischen Iden­tität der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts – man mag das Stück lieben oder hassen. Aber meine emotionale Reaktion ist bei Anatevka nun tatsächlich auf eine ganz andere Art persönlich, denn es hat auch mit der Familiengeschichte meines Großvaters zu tun. Diese entspricht ziemlich genau der Geschichte im Stück. Die Koskys stammen aus dem weißrussischen Schtetl Chashniki, südöstlich von Vitebsk. Das könnte ebenso gut Anatevka sein. Mein Großvater, seine vier Brüder und zwei Schwestern haben diesen Ort 1905 verlassen, zur selben Zeit, in der auch Anatevka spielt, und unter denselben Umständen. Sie flohen vor den Pogromen, die überall in Weißrussland stattfanden, nach Deutschland, wo sie aber nicht bleiben konnten. Von Hamburg aus reisten sie weiter nach Australien. Aber anders als im Stück blieben Teile meiner Familie im Schtetl: Mein Urgroßvater und seine Frau, er war der Hausverwalter in der Synagoge von Chashniki, lebten bis zu ihrem Tode in Weißrussland. Natürlich teilen Millionen jüdischer Familien diese Geschichte: Die jüdische Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft wird über den ganzen Erdball verstreut. Dies berührt zugleich die ganz fundamentale Bedeutung der Exilgeschichte für das Judentum. Anatevka ist daher nicht einfach irgendein Broadway-Musical.

Was hat es mit diesem Topos desExils auf sich?

Barrie Kosky Danach werde ich tatsächlich sehr oft gefragt. Es gibt dieses Phänomen des Exils in ganz vielen Kulturen. Aber meines Wissens gibt es keine andere, über einen solch enormen historischen Zeitraum existierende »Tradition des Exils« wie im Judentum. Gleichwohl ist es die Erfahrung von Exil und Verstreutsein, die die Menschen zu einer Gemeinschaft verbunden hat. In einer grausamen Ironie hat die monotheistische Idee des »auserwählten Volkes« dazu geführt, dass die Juden das Exil wie ein »Ehrenzeichen« tragen. Entsprechend bezieht sich das jüdische Geschichtsbewusstsein nicht auf das letzte Jahr, Jahrzehnt oder gar Jahrhundert – sondern auf eine mehrtausendjährige Geschichte. Jedes Exil – so furchtbar das ist – bringt an anderer Stelle neue Früchte hervor. Und die jüdische Kultur, so scheint mir, hat immer dann Außergewöhnliches hervorgebracht, wenn sie auf eine nicht-jüdische Umgebung geprallt ist. Die beiden großen Exilerfahrungen des jüdischen Volkes – die Babylonische Gefangenschaft und die Vertreibung aus dem Heiligen Land durch die Römer – und ihre Echos in den Jahrhunderten danach, mündeten in jüdischer Geschichte, jüdischen Feiertagen und Festen, jüdischen Traditionen, jüdischem Bewusstsein. Für mich ist das die »kulturelle DNA der jüdischen Erfahrung«. Und die Juden in Anatevka sind sich dieses Hintergrunds sehr bewusst.

Die Bewohner des Dorfes legen sehr großen Wert auf ihre Traditionen …

Barrie Kosky Der einzige Grund, weshalb das Judentum und die jüdische Kultur diese mehrtausendjährige Geschichte der Exile und des Verstreutseins verkraftet haben, sind nicht Künstler oder die Künste, sondern die Traditionen der jüdischen Kultur. Für die gläubigen Juden gibt es sehr rigorose Regeln und Vorschriften, die nicht verhandelbar sind. Daraus resultiert eine ungebrochene »Lebenslinie« der Kultur. Sehr viele jüdische Feste beinhalten das Wieder-Erzählen der Exil-Erfahrungen. Beispielsweise am Passah-Fest: Am Seder-Abend sitzen die Menschen gemeinsam am Tisch und reinszenieren symbolisch – durch Lieder, Rezitationen, die Speisen und ihre Abfolge – den Exodus aus Ägypten und das vierzigjährige Exil der Wüste. Es ist mein Lieblingsfest, denn Passah ist fast wie eine Theateraufführung – es gibt handelnde Personen, Requisiten und Kostüme. Eine Regel besagt, dass stets ein Becher Wein für den Propheten Elias bereitzuhalten ist, der den Messias ankündigen wird. Das ist eine unglaubliche Vergegenwärtigung, die da stattfindet. Immer geht es darum, nicht zu vergessen: »Nie vergessen! Nie vergessen!« All dies spielt für Juden, gläubig oder nicht, eine fundamentale Rolle und firmiert unter »Tradition«.


Das Thema steht gleich am Beginn des Abends ...

Barrie Kosky Ja, einerseits unterstreicht Tevje die Bedeutung der Traditionen und zugleich wird klar, dass wir in den kommenden Stunden miterleben werden, wie die jüngere Generation diese Traditionen mit allen Mitteln subversiv zu unterlaufen versucht. Denn darum geht es im Stück: Traditionen müssen sich ändern, damit sie überleben. Dies alles macht die jüdische Geschichte, in einem positiven Sinne, so ungeheuer kompliziert und reich: Sie kennt schreckliche Wegzeichen, katastrophale Momente, Traumata – das Babylonische Exil, die Tempelzerstörung, die Vertreibung aus Spanien, die Pogrome der Moderne in Osteuropa, die Shoa. Doch zwischen all diesen Momenten findet sich, merkwürdig zyklisch, das absolute Gegenteil: das Leben! – Genuss, Freude, kulturelle Identität, Entwicklungen in Kunst und Wissenschaften.

Anatevka spielt am Beginn des 20. Jahrhunderts, dennoch ist der Stoff schmerzhaft aktuell in unseren Tagen ...

Barrie Kosky Ja, leider. Um es sehr ironisch zu sagen: Würde man heute Anatevka auf Arabisch im Westjordanland inszenieren, wäre das Stück von elektrisierender Relevanz. Es wäre – da bin ich mir sicher – ganz genau dieselbe Geschichte: ein kleines Dorf in der West Bank und Leute, denen gesagt wird: »Ihr müsst euer Zuhause verlassen!« Was Tevje und Golde im Stück besprechen, erleben Tausende palästinensischer Tevjes und Goldes tagtäglich – das ist eine furchtbare Ironie.
Szene aus Anatevka
Zudem steht die Welt Tevjes und Goldes unter hohem »Modernisierungsdruck« ...

Barrie Kosky Man muss vorsichtig sein – viel zu schnell meint man, sich in eine bestimmte historische Situation »hineinversetzen« zu können. Damals, im Russland um 1905, hatte die Russische Revolution noch nicht stattgefunden, sie lag aber in der Luft. Der Erste Weltkrieg sollte erst noch geschehen, es existierten Monarchien in ganz Europa und dazu Nationalstaatsbestrebungen. Die ganze Welt folgte einer über Jahrhunderte gewachsenen Ordnung; man stand noch am Beginn der Industrialisierung, des Eisenbahnbaus, der Elektrifizierung und der völligen Veränderung der Welt durch moderne Kommunikationsmittel wie Radio, Telegraph und Telefon. An diesem kleinen Schtetl waren derlei Entwicklungen bisher völlig vorbeigegangen.

Immer wieder erlebt das Publikum, wie Tevje im Monolog versucht, die Welt zu ordnen ...

Barrie Kosky Diesen Teil der jüdischen Religion liebe ich sehr. Die Monologe stehen in der Tradition des Gesprächs, durchaus des Streitgesprächs, oder besser: der Auseinandersetzung mit Gott. Dies geht auf den alttestamentarischen Gott und seine Gläubigen zurück. Sie befragen ihren Gott, bezweifeln ihn, klagen und klagen an, streiten und diskutieren mit ihm. Dazu kommt die Tradition und Methodik der Talmud-Lektüre, die verschiedene Standpunkte der Interpretation des Heiligen Textes zulässt. Das ist ebenso fundamental wie einzigartig an der jüdischen Religion und Kultur. Genauso wie dieses permanente Fragen gehören Humor und ironische Scherze dazu. Tevjes Monologe mit Gott sind inspiriert von den Propheten und besonders vom Buch Hiob. Er redet wie ein Prophet in der »Wüste« einer russischen Landschaft, Tevje ist ein »Milchmann-Prophet«. Natürlich weiß er, dass sein Räsonieren keine Antworten erhalten wird– aber das spielt keine Rolle. Letztendlich, dies am Rande, mündete diese Methode der Besprechung mit sich selbst in die moderne Psychoanalyse. Da gibt es eine direkte Verbindung: Tevje spricht um 1905 mit Gott in einer Weise, in der im Wien derselben Zeit Menschen mit dem Begründer der Psychoanalyse – auch er ein Jude – sprachen.


Aber Tevje vertraut auch auf seinen Gott ...

Barrie Kosky Ja, hier findet sich die andere große Konstante des Judentums: die Hoffnung auf den kommenden Messias. Anders als im Christentum und Islam spielt das Jenseits eine unter­geordnete Rolle, wichtiger ist die permanent präsente Erwartung des Messias. Diese zwei Impulse, Exil und kommender Messias, »kollidieren« und formen aus diesem Zusammenprall das Judentum und seine spezifische Hoffnung auf Erlösung vom Unheil der Welt.

Sehr bald nach der deutschen Erstaufführung von Anatevka in Hamburg brachte Walter Felsenstein das Stück an die Komische Oper …

Barrie Kosky Und hat mit dieser Spielplanentscheidung und seinem Engagement dafür, dass diese Aufführung überhaupt zustande kam, unglaublichen Mut bewiesen. Mir scheint, die Gemeinschaft in Anatevka ist eine Erweiterung von Felsensteins Idee der Gemeinschaft des Theaters. Daher ist es ganz plausibel, dass er sich dieses Stück wählte – hinsichtlich seiner Arbeit mit dem Ensemble ist ein solches Projekt sehr verbindend. Es kam seinen künstlerischen Absichten entgegen. Das Stück überhaupt in den Spielplan eines Opernhauses aufzunehmen, war radikal – man stelle sich vor: in einer Linie mit Die Meistersinger von Nürnberg! Anatevka ist hierzulande äußerst beliebt und Felsensteins Inszenierung hat geradezu legendären Status erlangt. Sie unterschied sich als Ensemble-Arbeit mit einer großen Besetzung auf der Bühne sehr von den Broadway-Produktionen. Schaut man sich eine Aufführung in New York an, dann sind da höchstens dreißig Personen. Wir hatten und haben hier an der Komischen Oper nach der Anzahl der Personen im wahrsten Sinne des Wortes ein Schtetl auf der Bühne.

Was hat es mit dem Schluss auf sich, hätte Tevje die Grenze nicht anders ziehen können?

Barrie Kosky Er kann allen Töchtern vergeben, aber Chava nicht. Ich finde das eine ganz großartige Leistung des Stücks, dass es mit vielen ungelösten Fragen endet. Er lässt drei seiner fünf Töchter zurück – ich vermute: für immer. Die drei Mädchen bleiben in Europa, werden, ohne dass sie ihren Vater wiedersehen, älter, kommen vielleicht zu Tode ... Das Ende des Stücks lässt da einen unwiederbringlichen Verlust spüren. Dass Tevje so widersprüchlich angelegt ist, macht ihn so glaubwürdig. Obwohl er immer Antworten sucht, ist er von ihnen nicht überzeugt, er hat Zweifel. Tevje ist jemand, dem ins Gesicht geschlagen wird, der das überlebt und der Verletzungen und Narben davon trägt – er ist menschlich. Vielleicht sitzt er später als ein alter Mann in Brooklyn, mit vielen widersprüchlichen Erinnerungen und ungelösten Fragen, wie dieser harten Entscheidung. Aber zu Tevje gehören auch seine Großherzigkeit, sein Witz, sein Glaube an Huma­nität und seine Hoffnung in der Veränderung.

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